Auch wenn die Wirtschaft nun wieder in Gang kommt: In verschiedenen Ländern werden die Corona-Massnahmen der Regierung kritisiert. In Deutschland fällt die Schriftstellerin Juli Zeh auf. Vor elf Jahren schilderte sie im Roman «Corpus Delicti» eine Gesellschaft, die sich in einen Gesundheitsstaat verwandelt und bürgerliche Freiheiten der Volksgesundheit opfert.
Kürzlich schrieb die Autorin in einem Kommentar: «Ein Aufbegehren oder auch nur Infragestellen der massiven Freiheitseinschränkungen ist kaum zu verzeichnen, selbst wenn wirtschaftliche Existenzen in Gefahr geraten und das Selbstbestimmungsrecht der Einzelnen leerläuft. Kritiker stehen als herzlose Idioten da und handeln sich Shitstorms ein (…). Das ist langfristig bedrohlicher als das Virus selbst.»
Dem Mainstream hörig
Es gibt Kritiker, die vom Volk offensichtlich mehr Widerstand erwarten. Wieso eigentlich? Was hat das mit Corona zu tun? Ist Konformität nicht ein generelles Zeichen unserer Zeit? Entgegen der Propaganda einer «individualistischen Gesellschaft» bestrafen wir in Wahrheit doch schon seit Jahren unbequeme, aus der Herde ausscherende Stimmen, sobald sie den Betrieb stören. In der Schule, im Büro, selbst unter Nachbarn: Wenn sich jemand wirklich erlaubt, von der Mehrheitsstimmung abzuweichen, wenn er Denkgewohnheiten bedroht, dann sind wir nicht dankbar, sondern schauen diese Person schräg an. Im Grunde erwarten wir Anpassung und Mainstream-Hörigkeit. Abweichler werden problematisiert, pathologisiert, stigmatisiert.
Mehr Originale, weniger Kopien
Woher soll in einem solchen Klima plötzlich Opposition gegen «das System» kommen? Wie sollen geistige Robustheit und Tapferkeit wachsen, wenn wir im Alltag das Gegenteil fördern? Man muss nur schauen, wie viele Querdenker oder Charaktere mit Ecken und Kanten Spitzenpositionen in der Politik bekleiden, in der Hochfinanz, in der Welt der Konzerne.
Dominiert da nicht eher der angepasste, auf alle Seiten hin abgeschliffene Funktionsträger? Was wir für eine lebendige Gesellschaft brauchen, sind mehr Originale, die sich weigern, Kopien zu sein. Besonders in der Politik. Denn Demokratie lebt vom Streit um die besseren Ideen. Oder mit den Worten des Deutschen Dichters Jean Paul (1763–1825): «Eine Demokratie ohne ein paar Hundert Widersprechkünstler ist undenkbar.»
Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.