Kolumne «Weltanschauung»
Mädchen in Auschwitz

Antisemitismus nimmt zu in Europa – und er kommt nicht nur von rechts. Wenn wir uns gegen die Juden wenden, wenden wir uns gegen die eigenen Wurzeln.
Publiziert: 24.05.2020 um 23:57 Uhr
Giuseppe Gracia, Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur.
Foto: Thomas Buchwalder
Giuseppe Gracia

Vor 75 Jahren, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, ermordete ein SS-Kommando in einer Hamburger Schule 20 Kinder. Sie wurden erhängt. Die beiden jüngsten Kinder waren fünf Jahre alt. Es geschah in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1945, im Keller der Schule am «Bullenhuser Damm». Überlebt haben zwei Mädchen: Tatiana Bucci und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Andra.

Die beiden sind heute über 80 Jahre alt. Im soeben erschienen Buch «Wir, Mädchen in Auschwitz» (Nagel & Kimche) erzählen sie von ihrem Leben. Erzählen von der Deportation 1944 nach Auschwitz-Birkenau, von Kälte und Hunger, vom Spielen im Schlamm, von den Leichenbergen und dem ständig rauchenden Kamin.

Vereint in der Judenfeindlichkeit

Solche Bücher sind nicht nur ein Zeugnis für die Nazi-Gräueltaten, sondern heute leider wieder dringend nötig. Der Antisemitismus nimmt überall in Europa zu. Nicht nur in der Neonazi-Szene oder durch völkische Politiker, sondern auch durch linke und grüne Politiker, die ihren Antijudaismus unter dem Deckmantel der Israelkritik verstecken. Dabei kritisieren sie Israel für Dinge, die sie bei anderen Staaten akzeptieren. Sie messen mit zweierlei Mass, ähnlich wie die Uno, die jedes Jahr mehr Resolutionen gegen Israel als gegen alle anderen Länder veröffentlicht, inklusive China, Nordkorea, Syrien, Iran und Saudi-Arabien.

Eine Rolle spielt auch der Antisemitismus in muslimischen Ländern, der mit der Migration vermehrt nach Europa kommt und sich mit rechter und linker Judenfeindlichkeit vermischt. Viele westliche Medien müssen diese Feindlichkeit mitverantworten, aufgrund ihrer einseitigen Israel-Berichterstattung.

Jerusalem, Athen, Rom

Es wäre daher an der Zeit, dass wir uns neu bewusst machen: Das heutige Europa ist entstanden aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom. Wir stehen auf dem geistig-moralischen Boden von Judentum, Christentum, griechischer Philosophie und römischem Recht. Wenn wir uns gegen die Juden wenden, wenden wir uns gegen die eigenen Wurzeln. Oder mit den Worten des Philosophen Friedrich Engels (1820–1895): «Der Antisemitismus ist das Merkzeichen einer zurückgebliebenen Kultur.»

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Am 22. Juni erscheint sein neuer Roman «Der letzte Feind» (Fontis Verlag). In seiner BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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