Kolumne von Milena Moser
Mitfahrtherapie im Uber

Meine Nacht war schlimm. Die App für den Fahrdienst funktionierte auch nicht. Doch dann kam Ernesto, und das Leben roch nach Salbei.
Publiziert: 19.01.2020 um 15:08 Uhr
Die Schriftstellerin Milena Moser schreibt im SonntagsBlick Magazin über das Leben. Sie ist die Autorin mehrerer Bestseller. Ihr neustes Buch heisst «Das schöne Leben der Toten».
Foto: David Butow 2019
Milena Moser

Frustriert verfolgte ich das blinkende kleine Auto auf meinem Handy-Display. Es kam näher … näher … näher … und fuhr an mir vorbei. Neue Ankunftszeit: in sieben Minuten. Ich atmete tief ein. Was waren schon sieben Minuten? Im grösseren Zusammenhang eines Lebens: nichts. Doch in diesem Moment schien mir die zusätzliche Wartezeit absolut unzumutbar. Gleichzeitig war mir bewusst, wie lächerlich diese Reaktion war. Ich schob sie auf den Albtraum, den ich in der Nacht zuvor wieder und wieder geträumt hatte, jedes Mal in leicht abgewandelter Form. Aber die Situation war immer dieselbe. Ich versuchte verzweifelt, einen Termin bei meiner Therapeutin einzuhalten. Doch einmal erkannte ich die Strassen nicht mehr, ich wusste nicht, wo ich war. Dann fiel mein Handy in einen Gully, Fremde versuchten mich aufzuhalten, die Zeit sprang plötzlich eine Stunde vor, und einmal schob man mir einen Kinderwagen in den Weg, in dem ein schreiendes Baby lag, für das ich offenbar verantwortlich war. Als der Wecker klingelte, war ich schon vollkommen fertig.

Der Traum beschäftigte mich den ganzen Tag: Brauchte ich nochmals eine Runde Therapie? Vermisste ich das Baby, das ich in Santa Fe regelmässig gehütet hatte? Oder litt ich ganz einfach unter der ganz normalen Begleiterscheinung des modernen Lebens, dem Gefühl, immer und überall zu spät zu kommen?

Da piepste es wieder in meiner Hand: «Wir haben einen neuen Fahrer für dich gefunden!» Keine zehn Meter von mir entfernt lud Ernesto gerade einen Fahrgast aus. Ich rannte zu ihm hinüber, und ich stieg ein.

«Hallo, Milena, schön, bist du da!» Er begrüsste mich wie eine alte Freundin. Und bevor ich etwas sagen konnte, waren wir schon unterwegs. Sein Wagen war mit Salbeibündeln und Kristallen dekoriert. Ein Möchtegern-Guru, dachte ich. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Doch meine schlechte Laune war Ernestos fast schon mutwilliger Fröhlichkeit nicht gewachsen.

«Ist das Wetter nicht fantastisch?», fragte er. Ich schaute aus dem Fenster. Tatsächlich, die Wolkendecke war aufgebrochen, der Himmel blau.

«Wurde ja auch Zeit, dass es aufhört zu regnen!»

«Na komm, der Regen war doch toll. Man konnte richtig hören, wie die Erde aufseufzte.»

Ach ja? Das hatte ich definitiv verpasst. Aber das mochte auch daran liegen, dass ich gar nicht versucht hatte, die Erde seufzen zu hören. Und warum eigentlich nicht?

Jetzt zeigte er auf einen Spazierweg, der ganz versteckt zwischen einem Schulhaus und einem Parkplatz begann. «Warst du da schon mal?» Das war ich tatsächlich: Dieser Weg endet nämlich nicht weit von unserem Haus entfernt. Er führt durch den etwas bombastisch benannten «Glen Canyon», wo es das ganze Jahr über nach Eukalyptus riecht und man vergisst, dass man mitten in der Stadt lebt.

«Ach, schon ewig nicht mehr …»

Schockiert drehte sich Ernesto nach mir um. «Milena! Das ist nicht gut. Du musst jeden Tag spazieren gehen.»

«Da hast du recht.» Ich lehnte mich ins Polster zurück, zum ersten Mal an diesem Tag entspannt. «Danke.» Ich hatte genau das bekommen, was ich brauchte. Und als ich am nächsten Tag den Eukalyptusduft im Canyon einatmete, konnte ich fast schwören, ich hörte die Erde seufzen. Fast.

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