Kolumne «Geschichte»
Wenn die Glocken rufen

Sie sollten böse Geister vertreiben und für Gott werben: Glocken waren immer mehr als ihre Geläute. Manche Städter sehen in ihnen heute aber nur noch ein akustisches Ärgernis.
Publiziert: 26.12.2019 um 23:03 Uhr
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Aktualisiert: 06.02.2020 um 21:27 Uhr
Claude Cueni, Schriftsteller.
Foto: Thomas Buchwalder
Claude Cueni

Der französische Schriftsteller Aurélien Scholl (1833–1902) schrieb, selbst Gott brauche Werbung, er habe deshalb Glocken. In der Tat waren die ersten Glocken und Schellen bereits vor viertausend Jahren Bestandteil von kultischen und religiösen Zeremonien.

In der Antike boten Glocken Schutz vor bösen Geistern. Auch die ersten christlichen Kirchenglocken sollten den Teufel fernhalten. Später riefen sie die Gläubigen zum Gottesdienst und kündigten während der Messe die Ankunft des Heiligen Geistes an. Da er nie erschien und die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt, hören wir seit 2000 Jahren das Geläut. Kirchenglocken hatten früher auch einen praktischen Nutzen: Sie schlugen die Zeit an. Das war hilfreich, denn noch im 18. Jahrhundert hatten die wenigsten Menschen tragbare Uhren.

Sie dienten den Bauern als akustische GPS-Tracker

Die Glocke emanzipierte sich und warnte als Feuerglocke bei Brandgefahr und Stürmen, markierte den Beginn von Veranstaltungen wie Märkten, Unterricht, Sport oder später der Börse. Einige Glocken dienten den Bauern als akustischer GPS-Tracker. Sie konnten in unübersichtlichem Gelände ihre Tiere aufspüren und erst noch Wölfe abschrecken.

Mittlerweile empfinden viele Städter, die (freiwillig) aufs Land ziehen, das Kuhgebimmel als Ärgernis und fordern Kühe ohne Glocken, doch die Bauern fürchten, dass eine entglockte Leitkuh den Respekt der Herde verliert und in Depressionen verfällt – wie ein Macho, dem man den getunten Mazda wegnimmt.

Kirchenglocken klingen heute wie Alarmglocken

Ein Dorn im Auge beziehungsweise eine Glocke im Ohr sind vor allem die Kirchenglocken, die angesichts der leeren Kirchenbänke eher wie Alarmglocken klingen. Die Landeskirchen verteidigen ihre Glockenuhren heute mit dem Hinweis, sie seien ein Dienst an der Öffentlichkeit, als hätte mittlerweile nicht jeder eine Armbanduhr. Wieso aber eine lärmempfindliche Person freiwillig in die Nachbarschaft einer jahrhundertalten Turmuhr zieht, wird wohl Gegenstand einer neuen ETH-Studie sein.

Mich stören weder Kuh- noch Kirchenglocken. Mein Nachbar Leo sagt, er hätte auch nichts gegen das Gebimmel, wenn auch er zu jeder vollen Stunde auf dem Balkon in sein Alphorn blasen darf.

Claude Cueni (63) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Seine ersten 50 BLICK-Kolumnen sind soeben unter dem Titel «Die Sonne hat keinen Penis» erschienen.

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