Kolumne «Geschichte»
Ich gut, du Nazi

Der Begriff «Nazi» ist zur populistischen Folklore geworden und ersetzt das Argument. Sogar Tramchauffeure werden als «Scheissnazi» bezeichnet. Ist das etwa «geil»?
Publiziert: 19.09.2019 um 23:17 Uhr
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Aktualisiert: 24.09.2019 um 15:30 Uhr
Claude Cueni, Schriftsteller.
Foto: Thomas Buchwalder
Claude Cueni

Sie schlugen den Gegnern die Köpfe ab und hängten die Trophäen um den Hals ihrer Pferde. So beschrieb der griechische Geschichtsschreiber Poseidonios das Schlachtritual der Kelten. Diese «haarigen Wilden» sprachen unverständliches Kauderwelsch und wurden deshalb Barbaren genannt, was so viel heisst wie «Stotterer». Im Lauf der Jahrhunderte wechselte die Bedeutung, und der Begriff galt nur noch für unzivilisiertes Benehmen.

Eine ähnliche Verwandlung erlebt der Begriff «Nazi». Was ist ein Nazi? Es gibt den unbelehrbaren Alt-Nazi, der einen Massenmörder verehrt, und es gibt den Neo-Nazi, der weder Hitler noch den Holocaust erlebte und in der Schule einen Fensterplatz hatte.

«Aussen braun, innen rot»

Nazis haben sechs Millionen Juden ermordet. Kann man jemanden, der Nobelpreisträger Milton Friedman zitiert, wonach man entweder offene Grenzen oder ein Sozialsystem haben kann, mit den schlimmsten Verbrechern der Weltgeschichte gleichsetzen? 

Als Nazi werden Rechtsextreme bezeichnet, obwohl einige Historiker immer noch darüber streiten, ob Hitler nun ein Rechtsextremer oder ein Linksextremer gewesen ist. Denn er träumte wie alle Sozialisten von der sozialen Gleichschaltung, und sein Programm bewegte sich zwischen dem linken Totalitarismus Stalins und dem Faschismus des Ex-Kommunisten Mussolini. Karl Marx' klassenlose Gesellschaft hiess bei Hitler «Volksgemeinschaft». Ein populärer Witz war damals: «Aussen braun, innen rot.» Was also ist ein Nazi? 

ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann (#nazisraus) formulierte es ironisch: «Jeder, der nicht grün wählt, ist ein Nazi.» 

Wie megageil ist das denn?

Mittlerweile gehört die einschüchternde Nazi-Keule zur populistischen Folklore im deutschsprachigen Raum und ersetzt das Argument.

Jeder Begriff nützt sich durch den inflatorischen Gebrauch ab. In den 70er-Jahren war jemand «geil», wenn er sexuell erregt war. Heute ist alles geil, was Spass macht – ein Song ist geil, Geiz ist geil und eine Burger-Aktion «drei für zwei» ist megageil.

Die nächste Generation wird das Nazi-Wort wahrscheinlich nicht mehr mit den «nationalistischen Sozialisten» in Verbindung bringen. Ich hörte im Sommer einen Teenager fluchen, weil der Tramchauffeur nicht auf ihn gewartet hatte. Er rief ihm nach: «Scheissnazi!»

Claude Cueni (63) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK.

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