Kolumne «Geschichte»
Faule Knochen

Die TV-Fernbedienung hat eine ganze Generation ungeduldiger Zappelphilipps hervorgebracht. Das Gerät wird zunehmend durch Sprachsteuerung ersetzt – aber die Zapping-Kultur bleibt. Hallo Tiktok!
Publiziert: 16.04.2020 um 23:09 Uhr
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Aktualisiert: 17.04.2020 um 17:25 Uhr
Claude Cueni, Schriftsteller.
Foto: Thomas Buchwalder
Claude Cueni

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchte man zur Normalität überzugehen. Es wurde wieder Fussball gespielt, und das Fernsehen entwickelte sich allmählich zum Massenmedium, es gab plötzlich mehr Fernsehzuschauer als Rundfunkhörer.

Die Krönung von Elizabeth II. am 2. Juni 1953 brach alle Rekorde, obwohl der Gründer der Filmproduktionsgesellschaft 20th Century Fox behauptet hatte, dass sich das Fernsehen niemals durchsetzen würde: «Die Menschen werden sehr bald müde sein, jeden Abend auf eine Sperrholzkiste zu starren.»

Vom Zappen zum Zappeln

Ermüdet haben die TV-Zuschauer aber nicht die flimmernden Holzkisten, sondern die Bedienung des Fernsehgeräts, weil man zum Umschalten aufstehen musste. Einer dieser Couch-Potatoes entwickelte deshalb für die Firma Zenith eine Fernbedienung mit Kabel. Er nannte sie treffend «Lazy Bones» (Faule Knochen). Nachdem er zu Hause ein paar Mal über das Kabel gestolpert war, erkannte er ein gewisses Verbesserungspotenzial.

«Lazy Bones» wurde begraben, und sechs Jahre später eroberte der kabellose «Space Commander» die Wohnstuben. Dank der inflatorischen Zunahme an neuen TV-Kanälen wurde das schmale Gerät zur Standardausrüstung, und Kinder wurden nie mehr als menschliche Fernbedienung missbraucht.

Die Zapping-Kultur brachte eine ganze Generation ungeduldiger Zappelphilipps mit verminderter Aufmerksamkeit hervor. In den Printmedien wurden die Texte kürzer, die Bilder grösser, und Filme starteten gleich mit einer dramatischen Szene und integriertem Vorspann.

Die Kurzvideo-Plattform Tiktok erlaubte gerade mal eine Länge von 15 Sekunden. Textnachrichten schrumpften, Emojis wurden die Hieroglyphen der Neuzeit, und die Nutzer fühlten sich wie allzeit vernetzte Space Commander. Je mehr Zeit sie einsparten, desto weniger hatten sie übrig.

Jeder sein eigenes Medienhaus

Die Nachfahren der «Lazy Bones» gehen nun in Rente. Geräte werden mit der Sprache gesteuert. Geblieben ist die Zapping-Kultur. Jeder ist sein eigenes Medienhaus, sein eigener Zensor. Was nicht sofort überzeugt, wird weggezappt. Auch Jobs, Beziehungen und Kleingedrucktes. Im Wilden Westen bedeutete «zapped» abgeknallt.

Claude Cueni (63) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Im Herbst erscheint bei Nagel & Kimche sein neuer Roman «Genesis – Pandemie aus dem Eis».

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