Kolumne «Der Alte»
Schande hat kein Verfalldatum

Die Schweiz hat einst 60'000 Frauen und Männer administrativ versorgt – ohne Rechtsstaatlichkeit, sie hatten nichts verbrochen. Kolumnist Helmut Hubacher fragt sich, warum diese Ungeheuerlichkeit in seiner Zeit als Nationalrat nie ein Thema war.
Publiziert: 10.09.2019 um 23:28 Uhr
Helmut Hubacher, Ex-SP-Chef Schweiz.
Foto: Thomas Buchwalder
Helmut Hubacher

Vor der «Tagesschau» gibt die Polizei oft eine Vermisstmeldung bekannt. Dahinter könnte eine Tragödie stecken. In den Jahrzehnten bis 1981 sind in der Schweiz um die 60'000 Menschen verschwunden. Durch die behördliche Willkür. Da gab es keine Vermisstmeldung.

2014 fasste der ehemalige Zürcher Regierungsrat Markus Notter vom Bundesrat den Auftrag, ein dunkles Kapitel Geschichte aufzuklären. Vor zehn Tagen rapportierte er über das Ergebnis seines Teams. Wäre es nicht real existierende Wirklichkeit gewesen, hätte ich behauptet: aber nicht bei uns.

Menschen, unbemerkt verschwunden

60'000 Frauen und Männer sind «administrativ versorgt» worden. Sie hatten nichts verbrochen. Kein Gericht hat eine Gefängnisstrafe diktiert. Gleichwohl landeten sie in einem Gefängnis oder in einer Anstalt.

Sie fielen aus der gesellschaftlichen Norm. Als Spinner, durch einen liederlichen Lebenswandel, wegen Alkoholproblemen oder was sonst nicht genehm war. Eine kommunale Vormundschaft versorgte sie dann eben administrativ. Als ob alle keine Eltern, Bekannten, Schulfreunde gehabt hätten, blieben sie unbemerkt verschwunden. Das sagt uns doch: Freiheitsentzug passte zum damaligen Zeitgeist.

Was habe ich falsch gemacht?

Mich beschäftigt, wieso diese Schande in meiner Zeit als Nationalrat kein Thema war.

Pro Session sass ich 13 Tage im Bundeshaus. Macht bei vier Sessionen jährlich 52 Sitzungstage. Mal 34 Jahre sind es 1768 Tage, und nie gefehlt. Ich verbrachte also fast fünf Jahre meines Lebens im Bundeshaus. Kommissionssitzungen nicht mitgerechnet.

Und 60'000 verschwundene Menschen haben uns nie beschäftigt. Das rumort in mir. Was habe ich mit anderen falsch gemacht?

Eine kleine Freiheitsgeste

9000 Opfer sind noch unter uns. Ihnen sollen je 25'000 Franken überwiesen werden. Es werde überlegt, ob noch ein Supplément angemessen wäre. Das fände ich eine gute Idee. Ein Gratis-GA lebenslänglich solls sein. Das wäre eine kleine Freiheitsgeste: einsteigen und losfahren. Lieber Markus, danke schön für deinen imposanten Einsatz. Ein GA wäre das i-Tüpfchen.

Die Schweiz ist eine Demokratie. Ist sie auch ein Rechtsstaat? Damals nicht. Menschenrechte sind total missachtet worden. Es kann nur besser werden. Ist es geworden, hoffe ich.

Helmut Hubacher (93) war von 1975 bis 1990 Präsident der SP Schweiz. Er schreibt jeden zweiten Mittwoch im BLICK.

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