Kolumne «Alles wird gut»
Wer möchte mit Joe Biden tauschen?

Noch nie war ein US-Präsident bei Amtsantritt so alt wie Joe Biden. Mit 78 versucht er sich so zu bewegen, als sei er sein eigener Sohn. Für die Amerikaner kein Problem: Jeder darf sein, was zu sein er zu behaupten wagt.
Publiziert: 30.11.2020 um 06:51 Uhr
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Aktualisiert: 27.12.2020 um 19:19 Uhr
Ursula von Arx, Autorin.
Foto: Thomas Buchwalder
Ursula von Arx

Was geht noch mit 78 Jahren? Viele in diesem Alter sind mit dem Tod befasst, bei jeder Zigarette rechnen sie mit seiner Ungeduld. Sie regeln den Verbleib ihrer Katze und machen sich Gedanken über Art und Ort der letzten Ruhestätte. Sie trainieren sich in Gelassenheit gegenüber ihrem Zeug, manchen Dingen sind sie mehr verhaftet als anderen, zum Beispiel dem Brillenetui mit dem abgeschabten Samtpolster, das soll mit ins Grab.

Von solchen, der eigenen Endlichkeit gewidmeten Gedanken strampelte Joe Biden sich energisch frei. Der älteste Mann, den die USA je zu ihrem Präsidenten gekürt haben, rennt seinem Alter merklich davon: Auf jedem Weg zu jedem Rednerpult sucht er seine jugendliche Fitness zu beweisen, indem er ihn als Joggingstrecke zu begreifen scheint.

Bravo Inszenierung! Bravo Künstlichkeit!

In Amerika mag er dafür Applaus bekommen, denn Amerika hat ein ungezwungenes Verhältnis zu Inszenierungen und Künstlichkeit. Beifall für Michael Jackson, der sich von schwarz in weiss verwandelte! Beifall für Silikonpos, Silikonbrüste, Silikonlippen! Allen ein grosses Bravo, die an Maschinen ihre Muskeln modellieren. Bravo auch für alle sichtbar geglätteten Gesichter! Bravo für jeden Körper, der zur Ewigkeit hinstrebt.

Der Durchschnittsmensch mag mit 80 Jahren 40 Prozent seiner Muskelmasse abgebaut haben, schlechter sehen, schlechter hören. Aber wenn Joe Biden versucht, uns vergessen zu machen, dass er mitten im Zweiten Weltkrieg zur Welt gekommen ist, und sich bewegen will, als sei er sein eigener Sohn – fine.

In den USA darf jeder sein, was zu sein er zu behaupten wagt. Auch Trump machte sich diese amerikanische Bereitschaft zunutze, jedem schillernden Spektakel zu erliegen, und sei es noch so absurd.

Früh aufstehen, nie ausschlafen

Zum Vergnügen am Verwischen von Schein und Sein gehört der Skandal, wenn die Behauptungen platzen und ihre Leere sichtbar wird. Bei Trump kam der Moment nach der Wahl. Zu viele Leute mochten nicht mehr glauben, dass er der Sieger sei.

Mit seinem Nachfolger dürfte die Show weitergehen, aber dosierter. So wenig wie möglich, so viel wie nötig.

In aller Frühe wird Joe Biden künftig Lageberichte lesen und bis abends endlose Briefings, Konferenzen, Empfänge hinter sich bringen. Nie wird er in Ruhe ausschlafen und nie in Ruhe über die ewige Ruhe nachdenken können. Alles wird gut.

Ursula von Arx möchte nicht in einer Welt des reinen Seins ohne Schein leben. Sie findet den Gedanken tröstlich, dass jemand gesund sein kann, auch wenn er nicht gesund aussieht. Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.


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