Kolumne «Abgeklärt & aufgeklärt» über einen falschen Begriff
Warum es keine Verschwörungstheorien gibt

Die Illuminaten haben die Französische Revolution angezettelt, und Bill Gates steckt hinter der Corona-Pandemie – wer das glaubt, muss nicht weiterlesen. Denn es geht um Einsichten, nicht um geheime Absichten.
Publiziert: 10.01.2022 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 11.01.2022 um 08:45 Uhr
Demonstration gegen Corona-Massnahmen, Feindbild Bill Gates: Nichts ist, wie es scheint – hinter allem gibt es eine geheime Absicht. Wirklich?
Foto: imago images/ZUMA Wire
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René ScheuPhilosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP)

Ein Unwort hat in der Alltagssprache Hochkonjunktur: Verschwörungstheorie. In Wahrheit gibt es aber keine Verschwörungstheorien, sondern höchstens Verschwörungsfantasien. Denn anders als eine ernsthafte Theorie sind sie weder beweis- noch widerlegbar.

Es ist ja ziemlich schwierig, die Nichtexistenz von etwas zu demonstrieren. Und solange nichts Beweiskräftiges vorliegt, beweist dies in der verschwörungsfantastischen Logik vor allem eines: dass die Verschwörer ihre Spuren so unglaublich gekonnt verwischt haben. Damit ist der intellektuelle Salto mortale perfekt. Das Fehlen eines Beweises ist der ultimative Beweis.

Niemand hat solche Denkmuster so schön beschrieben wie Umberto Eco («Verschwörungen», im Hanser-Verlag neu aufgelegt). Sie gelten für alte und neue Verschwörungserzählungen gleichermassen: von den Illuminaten, die angeblich die Französische Revolution angezettelt haben, über Bill Gates, der mutmasslich hinter der Corona-Pandemie steckt, um – je nach Variante – durch Impfstoffe noch reicher zu werden, die Weltbevölkerung zu dezimieren oder die Menschen per eingepflanztem Chip zu überwachen, bis hin zu den alten weissen Männern, die ein unsichtbares, aber wirksames Patriarchat bewirtschaften.

Verbunden im Geheimwissen

Natürlich gibt es rund um die Welt laufend Komplotte – aber die kommen nach Eco für gewöhnlich ans Licht, weil auch die involvierten Mittäter geschwätzige bzw. dem Geld zugeneigte Wesen sind. Anders verhält es sich mit den Verschwörungsfantasien, die seit Jahrhunderten nach demselben Muster gestrickt sind. Für den italienischen Schriftsteller stiften sie ihren Anhängern einen doppelten Nutzen: Sie entlasten ihr Gehirn – und sie schaffen ein Zugehörigkeitsgefühl dank Geheimwissen.

Die unentzifferbare Welt wird dank Verschwörungsfantasie für sie plötzlich lesbar: Es gibt keinen Zufall, sondern alles verläuft nach einem Plan. Nichts ist, wie es scheint – hinter allem gibt es eine geheime Absicht. Und nur Eingeweihte erkennen dies – sie bilden die Gemeinschaft der Wissenden, die über alle anderen nur lächeln können.

Erbarmen, Aufklärung, Humor

Die Verschwörungsfantasie ist der Versuch des Menschen, gedankliche Ordnung ins natürliche Chaos der Welt zu bringen. Das hat etwas Tragisches, weil die Unordnung dadurch nur weiter zunimmt.

Dem englischen Schriftsteller G. K. Chesterton wird der Satz zugeschrieben: «Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht etwa an nichts mehr, sondern an alles Mögliche.» Wohl wahr. Was hilft? Ecos Antwort: Erbarmen. Aufklärung. Und natürlich: ganz viel Humor.

René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP). Er schreibt ab heute jeden zweiten Montag im Blick.

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