Immer weniger Anstand – Meyer rät
«Merkwürdige Auffassung von Freiheit»

Ich habe den Eindruck, dass die Menschen immer schlechtere Manieren haben. Neuerdings werden im ÖV lautstark Videos auf dem Handy geschaut und Telefonate mit Lautsprecher geführt.
Publiziert: 18.02.2023 um 14:55 Uhr
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Aktualisiert: 23.02.2023 um 12:34 Uhr
Immer mehr Menschen telefonieren ohne Rücksicht auf andere im ÖV.
Foto: IMAGO
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Thomas MeyerSchriftsteller und Kolumnist

Man wünscht sich die Zeiten zurück, in denen es den Menschen noch richtig peinlich war, vor anderen zu telefonieren, nicht wahr? Als sie hastig in ihr Handy flüsterten: «Ich bin gerade im Tram, ich ruf dich zurück!» Als auf den Tischen der Confiserie Sprüngli noch kleine Schildchen standen mit der freundlichen Bitte, auf den Gebrauch des Handys zu verzichten – aus Rücksicht auf andere
Gäste. Rücksicht, stand da!

Tatsächlich wünscht man sich die Zeiten zurück, in denen überhaupt noch irgendetwas peinlich war. Es wird hemmungslos gegähnt, ohne den Mund mit der Hand zu bedecken, kaum noch jemand hält beim Essen die Gabel richtig, und im ÖV werden Kebap und andere geruchsstarke Speisen verschlungen. Der Abfall bleibt natürlich liegen. Wie überall.

Dass nun auch noch laut Videos auf dem Handy geschaut werden, ist nur die technisch logische Fortsetzung dieser Entwicklung. Es ist vielen offensichtlich komplett egal, ob ihr Verhalten ihrer Umwelt unangenehm sein könnte. Sie scheinen es vielmehr als Grundrecht zu verstehen, sich so zu benehmen, wie es ihnen gerade passt. Sollte sich jemand daran stören, ist das dessen eigenes Problem und eindeutig seiner Biederkeit geschuldet.

Diese merkwürdige Auffassung von Freiheit (und Biederkeit) widerspiegelt sich nicht nur in lümmelhaftem, schamlosem Benehmen im öffentlichen Raum, sondern auch in den sozialen Medien und den Online-Kommentaren, wo längst keine Barriere mehr existiert, was den Umgangston anbelangt. Von der Rechtschreibung gar nicht erst zu reden. Das ist nicht nur ärgerlich, es ist gefährlich. Demokratie funktioniert nur, wenn wir uns einig sind, dass unsere Gemeinschaft Schutz und
Respekt verdient. Wir entwickeln uns aber immer mehr zu einer Bande spätpubertärer Individualistinnen und Individualisten, die glauben, sie seien zu
cool für Regeln.

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