«Geschichte, jetzt!»
Von Wöschwybern und Gossip Girls

Britta-Marie Schenk forscht als Professorin an der Universität Luzern zur Neuesten Geschichte. Historiker Daniel Allemann ist Spezialist für das Mittelalter und die Renaissance in Luzern. Gemeinsam verbinden sie historische Ereignisse mit der aktuellen Zeit.
Publiziert: 15.04.2023 um 11:41 Uhr
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Manchmal sorgte Klatsch aber auch für sozialen Kitt.
Foto: Getty Images
Britta-Marie Schenk und Daniel Allemann

Klatsch hat einen schlechten Ruf. Er gilt als oberflächliches, dummes Geschwätz, schlicht als Gegenpol ernster, wichtiger Gespräche unter Politikern und Wirtschaftsbossen. Und ein bisschen fies ist er auch, denn geklatscht wird hinter dem Rücken anderer. Ist der schlechte Ruf also gerechtfertigt? Ein Blick in die erstaunlich lange Geschichte des Klatsches gibt Aufschluss.

Die erste Tratschtante der germanischen Mythologie war ein Eichhörnchen. Es flitzte den Weltenbaum Yggdrasil auf und ab – oben erfreuten sich die Götter über den neuesten Klatsch von den Menschen, und unten hörten die Menschen von den Göttern. Auch die alten Römer hatten ihre Klatschfigur: die Fama. Sie sah und hörte alles, verbreitete es sogleich weiter und vermischte dabei Wahres mit Falschem – Klatsch als gefährliche Fake News der Antike.

Geradezu verteufelt wurde Klatsch im Mittelalter, besonders vom Adel und Klerus. Kein Wunder, denn Wandermusikanten sangen dem Pöbel pikante Geschichten vor, die zum Widerstand gegen die Mächtigen aufriefen – ehe man die Unruhestifter erwischte, waren sie über alle Berge. Für den Beichtvater der spanischen Königin Isabella war Klatsch sogar eine Todsünde, weil das heimtückische Getratsche zu gegenseitigem Misstrauen führte und die Gesellschaft zu spalten drohte.

Manchmal sorgte Klatsch aber auch für sozialen Kitt. Im 16. Jahrhundert führte der St. Galler Kaufmann Johannes Rütiner akribisch Tagebuch über die heissesten Geschichten der Stadt, um sich mit seinem Insiderwissen Zugang zur High Society zu sichern. Brisantes Insiderwissen besassen auch die Waschfrauen, denn sie wuschen schmutzige Wäsche im doppelten Sinn: Wollten sie Flecken entfernen, mussten sie deren Herkunft kennen und waren damit sofort im Intimbereich der Trägerinnen und Träger – und im Gespräch über Sex, Ehebruch und häusliche Gewalt. Dieses exklusive Wissen verlieh den «Wöschwybern» eine gewisse Macht, die mit der Entstehung des Bürgertums sogar noch wuchs. Die Waschfrau der modernen Stadt war gleich für mehrere Haushalte zuständig und konnte sich so erfolgreich gegen Lohndumping wehren: Wenn sie drohte, ihr intimes Klatschwissen aus einem Haushalt in den nächsten zu tragen, zückte die bürgerliche Hausfrau das Portemonnaie – Schweigegeld für die Arbeiterklasse.

In den 1970ern wurde Klatsch zum ganz grossen Business. Skandaljournalismus gabs schon lange, doch nun begann der Aufstieg der Klatschhefte, Zielgruppe Hausfrau. Um sie bestmöglich zu erreichen, verkaufte man die Hochglanzmagazine direkt an der Kasse von Supermärkten. Viele Bilder und die Botschaft: Bald geht auch dein geheimer Traum vom Glitzerleben in Erfüllung! In dieser Kombination wurde Klatsch zum Massenphänomen in «Middle Class America». Von dort wars ein kurzer Weg nach Europa – und in die Welt von TV und Internet.

Klatsch und Tratsch sind also viel mehr als nur dummes, hinterhältiges Gerede: Götter lernten durch sie von Menschen, Mächtige von Beherrschten und andersherum. Klatsch diente den Arrivierten, um noch arrivierter zu werden, zugleich war er aber auch eine Widerstandswaffe der vermeintlich Machtlosen – und eine Geldmaschine. Kurzum: Ohne Klatsch keine Gesellschaft!

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