«Geschichte, jetzt!»
Mein Bauch gehört mir?

Britta-Marie Schenk forscht als Professorin an der Universität Luzern zur Neuesten Geschichte. Historiker Daniel Allemann ist Spezialist für das Mittelalter und die Renaissance in Luzern. Gemeinsam verbinden sie historische Ereignisse mit der aktuellen Zeit.
Publiziert: 19.02.2023 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 18.02.2023 um 14:59 Uhr
«Seit 3000 Jahren entscheiden andere über den weiblichen Körper», schreiben die Kolumnisten Britta-Marie Schenk und Daniel Allemann.
Foto: Getty Images
Britta-Marie Schenk und Daniel Allemann

Die Schweiz hat Verspätung. Vor allem, wenn es um die Rechte von Frauen geht. Beim Frauenstimmrecht wissen das alle, bei der Abtreibung nicht. Erst im Jahr 2002 wurde die Fristenlösung eingeführt. Dem ging ein schier endloses Ringen zwischen Abtreibungsgegnern und Befürwortenden voraus. Doch bis heute ist Abtreibung ein Straftatbestand. Wie kam es dazu?

Gott wollte schon im Mittelalter keine Abtreibung. Zumindest behaupteten das seine irdischen Vertreter. Für Geistliche war der Zeitpunkt der Beseelung entscheidend: Solange das «Ding» im Bauch der Frau noch nicht lebte, war nur Schadenersatz fällig, erst nach der göttlichen Beseelung wars Mord. Bei Jungen dauerte die Menschwerdung 40 Tage, bei Mädchen doppelt so lange – Geschlechterdiskriminierung im Mittelalter. Die katholische Kirche ist also die Mutter der Fristenlösung, ein sakrales Prinzip, das sich bis ins 21. Jahrhundert gehalten hat.

Als der Staat wichtiger wurde, wollte er beim Thema Abtreibung mitreden. Schliesslich sollten seine Untertanen sich vermehren, um für Kriege gerüstet zu sein. Frauenkörper avancierten zur Staatsangelegenheit, Überwachen und Strafen war angesagt: Dienstherren und Eltern sollten jede Unzucht melden, Hebammen und Apotheker erwarteten schwere Strafen, wenn sie Abtreibungsarzneien verkauften. Die Verbote schrieben die neuen Universitätsmediziner, um sich als aufrechte Staatsdiener zu profilieren. Kurzum: Patronage auf allen Ebenen.

Frauen trieben aber trotzdem ab, ganz gleich, wie es auf dem Papier aussah. Und sie hatten Netzwerke: Mütter, Freundinnen und unverdächtige ältere Herren. Sie besorgten die entsprechenden Mittelchen aus der Apotheke, immer unter dem Vorwand, die «stockende Menstruation» wieder zum Fliessen zu bringen. Dazu gabs die Top-Tipps des muslimischen Starmediziners Avicenna: Sex, Schröpfen, Schläge. Vor allem spielte den ungewollt Schwangeren in die Hände, dass Abtreibungen und Fehlgeburten praktisch nicht zu unterscheiden waren. Frau gegen Patronage: eins zu null.

Das alles änderte sich um 1900, als Mediziner embryonales Leben unter dem Mikroskop entdeckten. Die Folge: Abtreibungen wurden kategorisch verboten. Erst im Zuge feministischer Proteste drehte sich der Wind. In den 70ern kam die Fristenlösung (ausserhalb der Schweiz), Ende der 80er dann die Abtreibungspille. Abtreibungsgegner packten sofort die Nazi-Keule aus: Die Pille sei nichts anderes als modernes Massenmorden à la Mengele. Pikant war jedoch: Der deutsche Mutterkonzern der französischen Pillenproduzentin war aus den IG Farben hervorgegangen – genau die Firma, die damals das tödliche Gas für die Konzentrationslager der Nazis produziert hatte. Frankreich, Schweden und Grossbritannien führten die Abtreibungspille trotzdem ein, die USA und Deutschland stritten um die Legalisierung bis zur Jahrtausendwende – zur Erinnerung: Die Schweiz kannte da noch nicht einmal die Fristenlösung.

Am grundsätzlichen Prinzip aber hat sich bis heute nichts geändert: Abtreibungen sind überall in Europa verboten, die Fristenlösung ist lediglich eine Ausnahme von der Regel. Seit 3000 Jahren entscheiden andere über den weiblichen Körper. Es ist an der Zeit, dass jede betroffene Frau straffrei und zu jedem Zeitpunkt selbst über ihre Abtreibung bestimmt. Getreu dem Schweizer Mantra par excellence: Eigenverantwortung!

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