Freundschaften – Thomas Meyer rät
«Wer braucht schon Leute, die einen ablehnen?»

Ich (m, 30) kann mich mit immer weniger Menschen identifizieren. Ich habe kaum noch Freunde.
Publiziert: 25.04.2020 um 14:16 Uhr
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Aktualisiert: 08.05.2020 um 17:19 Uhr
Foto: Thomas Meier

Dieser Vorgang ist nur natürlich. Zugegebenermassen setzt er bei Ihnen etwas gar früh ein. Üblicherweise wird einem erst ab 40 bewusst, dass a) die Lebenszeit stark limitiert ist und man gut überlegen muss, wie – und eben mit wem – man sie verbringt, und dass b) es enorm viel braucht, bis einem jemand wirklich entspricht. Und dass c) das nicht nur für Freundschaften, sondern auch für Liebesbeziehungen gilt. Ungefähr mit 45 stellt sich diesen Erkenntnissen gegenüber jedoch ein stiller Friede ein: Man kann zwar nur mit wenigen Menschen etwas anfangen, mit diesen dafür viel. Aus der Breite der jungen Jahre, in denen man sich mit fast jedem versteht, dafür oft nicht für lange, wird die Tiefe der reiferen. Ausserdem ist man auch gern mal allein; ungestört vom geschwätzigen Drama, das einem die Welt ständig vor die Füsse schwemmt.

Was Sie als Problem erachten, ist daher ein grosser Segen. Menschen, mit denen Sie sich nicht verstehen, sind eine Gesellschaft, auf die Sie nicht nur verzichten können, sondern auch sollten. Wer braucht schon Leute, die einen ablehnen, weil man ganz anders denkt als sie? Natürlich ist es wichtig, sich gegensätzliche Meinungen anzuhören, aber damit wird man auch in den besten Freundschaften noch ausreichend konfrontiert. Beziehungen sind dazu da, einem gutzutun, und wenn sie das nicht können, soll man sie gar nicht erst führen. Viele Leute umgeben sich mit komplett inkompatiblen Weggefährten und fühlen sich ständig unverstanden und einsam. Man ist also gut beraten, in dieser Frage wählerisch zu sein, und oft zu verzichten. Freuen Sie sich, dass Sie – auch wenn es sich noch wie ein Unvermögen anfühlt – schon jetzt dazu in der Lage sind. Manch einer hat mit 80 noch nicht kapiert, was Freundschaft bedeutet: nämlich Gleichheit. Sagte schon Aristoteles.

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