ETH-Präsident Joël Mesot über lebensrettende Algorithmen
Die Daten zum Sprechen bringen

Joël Mesot ist Präsident der ETH. Der erste Romand in diesem Amt seit über 100 Jahren. In dieser Kolumne widmet er sich ethischen Fragen zur Technik.
Publiziert: 22.10.2019 um 10:14 Uhr
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Aktualisiert: 23.10.2019 um 11:03 Uhr
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Joël Mesot, Präsident der ETH.
Foto: ETH Zürich / Markus Bertschi
Joël Mesot

Der Strom digitaler Daten fliesst inzwischen so selbstverständlich wie Wasser aus unseren Hähnen. Das Internet der Dinge überzieht die ganze Welt mit Datenpunkten. Bis 2020, so schätzt die Firma IDC, wird die Menge an digitalen Daten bereits 40 Zettabytes betragen. Das ist eine Zahl mit 21 Nullen!

Daten stammen aus vielen Quellen und liegen in unterschiedlichster Form und Qualität vor: als Bilder, Texte, Videos oder Audiodateien oder als Notizen, die erst digitalisiert werden müssen. Die personalisierte Medizin nutzt diverse Datenquellen – vom Fitness-Tracker über die individuelle Krankheitsgeschichte bis zum Erbgut.

Nackte Daten bringen niemandem etwas

Aber Rohdaten sind von begrenztem Wert. Erst wenn diese so aufbereitet sind, dass sie mithilfe von Algorithmen beackert werden können, wird es für die Wissenschaft, die Medizin oder die Digitalwirtschaft interessant. Vergleichbar mit der Umwandlung von Rohstoffen zum Fertigprodukt gibt es auch für Daten einen mehrstufigen Veredelungsprozess, an dessen Ende eine neue Erkenntnis steht.

Auf Intensivstationen von Spitälern stehen die Patientinnen und Patienten unter erhöhter Beobachtung. Das Ärzte- und Pflegeteam ist mit einer Flut von Messwerten und Informationen konfrontiert, die kontinuierlich beobachtet und interpretiert werden müssen. Um herauszufinden, wie weit künstliche Intelligenz diese Aufgaben unterstützen kann, haben das Berner Inselspital und ein Forschungsteam der ETH Zürich ein Frühwarnsystem entwickelt. Ziel war es, ein Kreislaufversagen von Patienten auf der Intensivstation bis acht Stunden, bevor es eintritt, vorauszusagen.

Alle 5 Minuten eine Vorhersage

In einem ersten Schritt ging es darum, aus der riesigen Datenmenge Inkonsistentes herauszufiltern und sicherzustellen, dass man Gleiches mit Gleichem misst. So blieben von 54'000 archivierten Patientendossiers noch 36'000 zur Analyse übrig, und aus den 4500 Variablen wurden schliesslich die 20 relevantesten bestimmt. Basierend auf diesen Daten entwickelten die Forschenden anschliessend mit Methoden des maschinellen Lernens ein Modell, das alle fünf Minuten eine Vorhersage trifft.

Eine Herausforderung bestand darin, einen optimalen Schwellenwert zu definieren, bei dem ein Alarm ausgelöst wird. Ein zu tiefer Schwellenwert erhöhte die Anzahl Fehlalarme, ein zu hoher verpasste brenzlige Situationen. Die Forschenden konnten schliesslich nachweisen, dass ihr Modell in 90 Prozent der Fälle ein Kreislaufversagen vorhersagen konnte, und zwar im Durchschnitt zweieinhalb Stunden im Voraus – dies bei nur ein bis zwei Fehlalarmen pro Tag und Patient.

Der Mensch bringt die Daten zum Sprechen

Fazit: Aus dem Datenberg zu Beginn hat man sukzessive ein neues Verständnis entwickelt und dazu noch ein Instrument geschaffen, das Ärzten und Pflegenden auf der Intensivstation helfen kann, Leben zu retten. Die Forschung ist damit nicht zu Ende. Es ist geplant, das Frühwarnsystem in einer klinischen Studie weiteren Tests zu unterziehen.

Unser Datenberg wächst von Jahr zu Jahr – und damit auch das Potenzial für sinnvolle Anwendungen von künstlicher Intelligenz in der Medizin. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Daten erst durch menschliche Urteilskraft und kritische Prüfung zum Sprechen gebracht werden können. Eine Wundermaschine, die man mit Daten füttert und die am Ende glasklare Schlussfolgerungen ausspuckt, gibt es bisher nicht.

Ihr Joël Mesot

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