Was machen wir in der Ukraine? So fragt ein Redaktor der «Rossijskaja Gaseta», des Amtsblatts der russischen Regierung, diese Woche in einem Beitrag. Das «Naziregime in der Ukraine» sei in der Lage, «sowohl eine ‹schmutzige› Atombombe herzustellen, als auch, mit Hilfe westlicher Partner, konventionelle Atomsprengköpfe». Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet darum: «Wir schützen die Zukunft Russlands. Wir verhindern einen nuklearen Angriff auf unser Land und einen dritten Weltkrieg.»
Noch etwas weiss der Redaktor: «Die Ukraine ist nicht nur ein westliches Projekt, ein ‹Anti-Russland›. Sie ist im Wesentlichen ein Arbeits- und Konzentrationslager für die russischsprachige Bevölkerung.» Und er fährt fort: «Genau die gleichen Konzentrationslager, wo Russen als Bürger zweiter Klasse gelten und ihnen die Bürgerrechte verweigert werden, wo Andersdenkende einfach inhaftiert werden – das sind die baltischen Republiken.»
Vor acht Tagen wandte sich Wolodimir Selenski per Liveschaltung auf den Bundesplatz an die Schweiz. Wie in all seinen Video-Ansprachen baute der ukrainische Präsident auch in seinem Berner Appell eine emotionale Bindung zum Publikum auf. In diesem Fall sagte er: «So wie ich damals wollte, dass die Ukrainer wie die Schweizer leben, so möchte ich jetzt, dass Sie wie die Ukrainer sind – im Kampf gegen das Böse.»
Es war die rhetorisch hochstehendste Rede eines Politikers, die hierzulande seit langem zu hören war. Leider aber ist es kein blosses Sprachbild oder Stilmittel, wenn Selenski betont, sein Land verteidige nicht nur sich selbst, sondern ganz Europa. Artikel wie jener in der «Rossijskaja Gaseta» belegen die Gefährlichkeit von Wladimir Putin weit über die Ukraine hinaus. Wenn Russen in den baltischen Staaten wie in Konzentrationslagern vor sich hin vegetieren, warum sollte sie das Vaterland nicht ebenfalls befreien? Und was ist mit anderen Ländern? Mit Moldawien? Georgien? Polen?
Die Menschen in der Ukraine zeigen Wladimir Putin unter unvorstellbaren Opfern, dass es in Europa keine niedrig hängenden Früchte mehr gibt, die sich in einem Blitzkrieg rasch mal pflücken lassen.
Die Schweiz zeigt sich hilfsbereit gegenüber Schutzsuchenden aus der Ukraine. Nach anfänglichem Widerstand trägt sie ausserdem die EU-Sanktionen gegen Moskau mit. Allerdings fällt auf, dass in den Communiqués des Bundes – insbesondere in jenen des Wirtschaftsdepartements – der Krieg selten beim Namen genannt wird. Die Rede ist von der «Situation in der Ukraine», von der «Ukraine-Krise» oder einer «Militärintervention Russlands». Letzteres klingt auffallend ähnlich wie der vom Kreml vorgeschriebene Begriff «spezielle Militäroperation».
Auch zeichnen sich heute schon die künftigen Bruchlinien im Schweizer Rückhalt für die Ukraine ab. Die Wochenzeitung eines SVP-Nationalrats warb diesen Donnerstag für eine «friedliche Koexistenz» mit Putins Russland. Die Aargauer SVP-Nationalrätin Martina Bircher sprach sich auf dem Video-Kanal ihrer Partei gegen Deutschkurse für Schutzsuchende aus. Und Bundespräsident Ignazio Cassis muss sich des Langen und Breiten rechtfertigen, weil er den ukrainischen Präsidenten Selenski bei seinem virtuellen Auftritt in Bern begrüsst hat.
Bisher sind solche Stimmen in der Minderheit. Selbst wenn Russland seine Kriegsziele neuerdings angeblich etwas zurücksteckt – der Frieden wird lange auf sich warten lassen. Die eigentliche Bewährungsprobe steht uns erst bevor: Wie viele Flüchtende werden es am Ende sein? Welche Auswirkungen haben die hohen Preise für Brenn- und Treibstoffe? Muss am Ende jemand frieren und den Gürtel enger schnallen? Irgendwann könnten viele der fatalen Versuchung erliegen, nach einer Verständigung mit dem Kriegsverbrecher Wladimir Putin zu rufen.
Die Verteidigung Europas ist nicht gratis zu haben. Die Menschen in der Ukraine bezahlen diesen Preis unter Einsatz ihres Lebens. Da ist es für uns das Allermindeste, ihnen nicht in den Rücken zu fallen.