Omikron wirkt wie der totale Wintereinbruch. Die Taskforce des Bundes rechnet für die zweite Januarwoche mit über 20'000 Corona-Infektionen pro Tag. Auch wenn der Bundesrat (noch) keinen Lockdown verfügt hat, ist – neben der Impfung natürlich – der Rückzug in die eigenen vier Wände das Gebot der Stunde. So muss sich die kalte Jahreszeit für unsere Ahnen vor der industriellen Revolution angefühlt haben: eisig und einsam und absolut existenzbedrohend.
Wie kommt man am besten durch einen harten Winter? Anruf bei Christian Cajochen, Leiter des Zentrums für Chronobiologie an der Universität Basel. Cajochen erforscht den Einfluss der Jahreszeiten auf den Menschen. Er sagt: «Gerade im Winter ist es wichtig, regelmässig das Haus zu verlassen und bei einem Spaziergang genügend Licht zu tanken. Auch bei Nebel hat es draussen mehr Licht als in der Wohnung.» In den skandinavischen Ländern gibt es an den Schulen eigentliche Lichtpausen, ab und zu findet sogar der Unterricht im Freien statt. Sogenannte Tageslichtlampen – 10'000 Lux während einiger Minuten aus kurzer Entfernung mit den Augen förmlich eingesogen – können ebenfalls weiterhelfen. «Nach dem Aufstehen wirkt das fürs Gemüt wie ein Booster», sagt Cajochen.
Das «British Medical Journal» berichtete im Jahr 1900 über russische Bauern in einer von chronischem Hunger heimgesuchten Region südwestlich von St. Petersburg. «Beim ersten Schneefall versammelt sich die ganze Familie um den Ofen, legt sich hin und schläft ein. Einmal am Tag wacht jeder auf, um ein Stück Brot zu essen. Die Familienmitglieder wechseln sich ab, um das Feuer am Brennen zu halten. Nach sechs Monaten wacht die Familie auf, schüttelt sich, geht raus und macht sich nach und nach an die Arbeit im Sommer.»
Christian Cajochen hat bei einem russischen Kollegen nachgefragt, was es mit dieser Geschichte auf sich hat. Ist sie mehr als ein Märchen? Konstantin Danilenko, stellvertretender Direktor am Institut für Physiologie in Nowosibirsk, kann es sich zumindest vorstellen, dass diese Form der Überwinterung praktiziert wurde. Früher starben in Russland ganze Dörfer den Hungertod. Der Schlaf könnte in Danilenkos Augen eine Strategie gewesen sein, um möglichst die fittesten Familienmitglieder über den Winter zu bringen.
Ganz anders sieht das Nada Boskovska, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. Der Artikel im «British Medical Journal» zeugt ihrer Ansicht nach lediglich vom (Un-)Kenntnisstand der damaligen Wissenschaft. Und von antirussischen Vorurteilen: Rückständigkeit, Primitivität, Faulheit.
Wie dem auch sei: Wenn es nicht gleich sechs Monate Winterschlaf sein sollen – können wir gleichwohl etwas von der Natur lernen? Wie überstehen jene Tiere einen harten Winter, die nicht einfach in Schlummer sinken?
Die Frage geht an Carsten Schradin, Verhaltensbiologe an der Universität Strassburg. Er unterscheidet zwischen Stress und dem Überleben in einer rauen Umwelt mit wenig Futterangebot. Stresshormone verleihen einem Tier jenen Energieschub, den es braucht, um einem Fressfeind zu entkommen. Stress und Stressreaktion dürfen allerdings nur kurz sein. «Dauerstress führt zu Krankheit und Tod», erklärt Schradin. In einer rauen Umwelt derweil müssen die Tiere ihre Stressreaktionen herunterfahren und Energie sparen. Carsten Schradin schliesst daraus: «Wir müssen erkennen, dass die Pandemie kein Stress ist, sondern eine raue Umwelt. Wir müssen die Situation akzeptieren, Ressourcen langfristig einsetzen anstatt wie in einer Stressreaktion alles auf einmal.»
Was im Omikron-Winter sicher hilft, ist die Lektüre guter Bücher. An dieser Stelle besonders empfehlen möchte ich Bernd Brunners 2016 erschienene Kulturgeschichte der kalten Jahreszeit mit dem Titel: «Als die Winter noch Winter waren».