Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Nein, die Befürworter einer Impfpflicht sind keine Nazis

An Kundgebungen heften sich Impfgegner einen Davidstern an die Brust, um als Opfer nationalsozialistischer Machenschaften zu gelten. Dabei handhabten die Nationalsozialisten das Thema Impfen sehr flexibel. Führende Nazis waren ausgesprochen impfkritisch.
Publiziert: 05.12.2021 um 01:26 Uhr
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Aktualisiert: 05.12.2021 um 19:02 Uhr
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SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty.
Foto: Paul Seewer

Sind die Befürworter einer allgemeinen Impfpflicht Nazis? In den sozialen Medien kursieren Begriffe wie «Impfnazis», an Kundgebungen heften sich Impfgegner einen Davidstern an die Brust, um als Opfer nationalsozialistischer Machenschaften zu gelten. Vermutlich ist es aber auch vielen Menschen nicht ganz wohl bei der Sache, die im Grunde Sympathien für eine Impfpflicht hegen. Wer möchte schon im Verdacht stehen, in braunen Fussstapfen zu marschieren?

Der Historiker Malte Thiessen hat 2017 ein Buch über die Geschichte des Impfens in Deutschland publiziert. Über die Zeit des Nationalsozialismus – damals ging es um die Pockenimpfung – zieht er dieses Fazit: «Das ‹Dritte Reich› gab sich ausgesprochen pragmatisch bei der Durchsetzung der Impfpflicht und offen gegenüber freiwilligen Impfungen.»

Zwar faselten die Nationalsozialisten fortlaufend vom «gesunden Volkskörper». Der allerdings sollte einerseits durch die Ermordung Unschuldiger erlangt werden, andererseits durch Abhärtung und gesunde Ernährung. Historiker Thiessen erwähnt die «naturheilkundlichen Strömungen in der NSDAP», der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, und er zitiert Julius Streicher, den Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes «Der Stürmer», mit den Worten: «Die Impfung ist eine Rassenschande!»

Auch der sogenannte Reichsärzteführer Gerhard Wagner zählte zu den Impfgegnern, ebenso der Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess sowie Heinrich Himmler, Chef der SS. Und Adolf Hitler selbst? Blieb vage. Die «Deutsche Gesundheitspost» jedenfalls, eine Zeitschrift der Impfgegner, sah in ihm einen Verbündeten. 1933 schrieb ihr Chefredaktor unter dem Titel «Adolf Hitler Impfgegner»: «Adolf Hitler braucht auch uns, gerade uns Impfgegner, um sein Ziel zu erreichen, die körperliche und geistige Reinheit unseres Volkes.»

Mitte der 1930er-Jahre wollte das Innenministerium in Berlin die zur Kaiserzeit eingeführte Pockenimpfpflicht offiziell aufheben. Dagegen wehrte sich jedoch die Reichswehr – am Ende einigte man sich auf eine flexible Handhabung der Vorschrift. Die Empfehlung der Behörden lautete fortan: «Wenn der Impfarzt aus psychologischen Gründen auch hier und da einmal ein Kind nicht impft, so schädigt das Verfahren in keiner Weise den Pockenschutz des deutschen Volkes.»

In der repräsentativen SonntagsBlick-Umfrage von letzter Woche sprachen sich 53 Prozent für ein
allgemeines Impfobligatorium aus. Bei dieser Mehrheit handelt es sich also bestimmt nicht um Nazis.

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Das ist aber bereits das einzig Beruhigende an der aktuellen Situation. Die Corona-Ansteckungen nehmen zu, ebenso die Spitaleinlieferungen. Trotzdem übt sich der Bundesrat in Zurückhaltung. Klar: Eine explizite Impfpflicht, wie sie in Österreich und Deutschland angedacht ist, hilft nicht kurzfristig; sie wäre ein Mittel, um eine sechste und siebte Welle zumindest abzuschwächen.

Anders verhält es sich mit der 2G-Regel – also dem Status «geimpft» oder «genesen» – als Bedingung für die Teilnahme am öffentlichen Leben. In unserer Umfrage plädierten 63 Prozent dafür. Diese Massnahme liesse sich rasch umsetzen, sie wäre wirksam, doch der Bundesrat will davon nichts wissen. Dass er jetzt Clubs die Möglichkeit gibt, den Zutritt auf Geimpfte und Genesene zu beschränken und dafür auf die Maskenpflicht zu verzichten, hat mit einer umfassenden 2G-Regel nichts zu tun.

Für diese Untätigkeit unserer Landesregierung gibt es viele Gründe. Einer ist die Angst vor der Anschuldigung, eine «Corona-Diktatur» errichten zu wollen. Der Bundesrat lässt sich weiterhin von den Impfgegnern vor sich hertreiben – ungeachtet der angespannten Lage, ungeachtet der erwähnten Umfrageergebnisse, ungeachtet der gewonnenen Abstimmung vor einer Woche. Und ungeachtet dessen, dass Diktatur- und Nazivorwürfe alles andere als historisch berechtigt sind.

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