Der Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine ist Putins Krieg. Der russische Präsident trägt die Verantwortung für das tausendfache Töten und unermessliches Leid. Aber wäre alles gut, wenn Putin nicht wäre?
Laut dem Militäranalysten Pawel Felgenhauer begann Russland spätestens 2013, seine Armee zu modernisieren und hochzurüsten. Damals warnte der russische Generalstabschef Waleri Gerassimow öffentlich vor einem Weltkrieg um natürliche Ressourcen; irgendwann nach 2025 sei damit zu rechnen. Wegen seiner immensen Vorkommen an Gas und Öl sei Russland dann unweigerlich Angriffsziel für ausländische Truppen.
Was eine militärische Invasion in Russland von Westen her betrifft, so würde sich eine solche am einfachsten bereits in Polen stoppen lassen. Der Grund sind die Karpaten: Das Gebirge bildet über weite Strecken einen natürlichen Riegel zwischen Mittel- und Osteuropa. In der Logik der Moskauer Geostrategen müssen die Ukraine, Weissrussland, Polen, Litauen, Lettland und Estland darum als Puffer sowie als mögliches Aufmarschgebiet für die russische Armee herhalten.
Ja, es stimmt: Kriege werden letzten Endes immer um Ressourcen geführt. Für Leute wie Generalstabschef Gerassimow mag sich es darum auch bei der aktuellen Zerstörung der Ukraine um eine «militärische Sonderoperation» zum Schutz der russischen Bodenschätze handeln. Für jeden anderen jedoch verrät diese Sichtweise vor allem zweierlei: tief sitzende Paranoia und den masslosen Anspruch Russlands, eine Grossmacht zu sein. Moskau tritt mit dem Anspruch auf, sich für jede noch so hypothetische Gefahr wappnen zu dürfen, ohne dabei die geringste Rücksicht auf andere nehmen zu müssen.
In seiner 1944 veröffentlichten «Geschichte Russlands» weist der in der heutigen Ukraine geborene Schweizer Historiker und Nationalrat Valentin Gitermann (1900–1965) darauf hin, dass im alten Zarenreich zwei Ideologien miteinander konkurrierten: der mystische Glaube an die welthistorische Mission des russischen Volkes versus die Auffassung, Russland sei ein integraler Bestandteil Europas.
Nach dem Ende der Sowjetunion keimte die Hoffnung, Russland könnte dieses Mal tatsächlich zum europäischen Staat werden. Leider nur setzten praktisch sämtliche russischen Politiker auf die Vorstellung von der Grossmacht. Daran erinnert der Petersburger Politologieprofessor Igor Gretskiy, der sich seit Januar in Estland aufhält, in einem kurz vor der russischen Invasion in der Ukraine publizierten Aufsatz. Der vom Westen hofierte Präsident Boris Jelzin machte da keine Ausnahme.
Wladimir Putin hat dieses Denken zu einem mörderischen Kult weiterentwickelt. Dazu gehört seine Selbstinszenierung als starker und rücksichtsloser Führer. In Wahrheit verrät dieser Auftritt Putins Versagen als Politiker. Intellektuelle wie Igor Gretskiy kritisieren seit langem: Es ist leichter, Grossmachtfantasien zu bedienen als die Infrastruktur im Land zu verbessern und die weitverbreitete Armut zu besiegen. Es ist einfacher, Grossmachtparanoia zu schüren als eine offene, lebendige und stabile Gesellschaft aufzubauen.
Keine Frage: Ohne Putin ginge es in der Welt derzeit weniger schrecklich zu und her. Doch ob ohne ihn alles gut wäre? Igor Gretskiy schreibt sinngemäss: Es müsste schon ein politisches Jahrhunderttalent an der Staatsspitze stehen, um in Russland echte Demokratie sowie eine breite Mittelschicht zu etablieren. Und um das Land endlich von seinen Grossmachtkomplexen zu befreien.
Dennoch dürfen wir die Hoffnung nicht fahren lassen. Russland hat rund 145 Millionen Einwohner. Das ist zwar weniger als Brasilien, Nigeria oder Bangladesch, alles Staaten ohne erkennbare Grossmachtambitionen. Bei einer solchen Bevölkerungszahl werden sich aber selbstverständlich mehr als genügend Menschen finden, die willens und in der Lage sind, Russland nach einem Sieg der Ukraine und dem Ende von Putins Schreckensherrschaft in die Weltgemeinschaft zu integrieren – als konstruktive Kraft.