Warum, fragen sich viele, zögert unsere Landesregierung? Die Zahl der Neuinfektionen steigt rapide, die Corona-Taskforce hat diese Woche vorgerechnet, worauf wir uns gefasst machen müssen: überlastete Intensivstationen, verschobene Operationen, Ärzte im Entscheidungszwang, welche Patienten überleben dürfen und welche nicht. Die grosse Umfrage von SonntagsBlick zeigt: Angesichts solcher Szenarien verlangt eine Mehrheit vom Bundesrat ebenso rasches wie entschiedenes Handeln. Doch der mag sich bislang nicht einmal zu einer Maskenpflicht in Restaurants durchringen.
Gewiss hat das auch mit der Abstimmung von heute Sonntag zu tun. Mit der Befürchtung, weitere Massnahmen treiben weitere Massnahmengegner an die Urne. Die eigentlichen Ursachen der magistralen Untätigkeit liegen allerdings tiefer. Wir stehen heute wieder vor der Frage, was wichtiger ist: Möglichst uneingeschränktes Wirtschaften oder die Gesundheit der Menschen? Die vier Vertreter von SVP und FDP plädieren für Ersteres. Im Siebnergremium ergibt das eine Mehrheit für die unkontrollierte Durchseuchung.
Unsere Exekutive wird aber auch vom Parlament gebremst. Die Wirtschaftskommissionen von National- und Ständerat haben erst kürzlich gedroht: Sollte der Bundesrat die Verbreitung des Virus mit neuen Einschränkungen einzudämmen versuchen, würden sie eine Klausel ins Covid-Gesetz schreiben, die seine Kompetenzen künftig empfindlich einschränkte.
Die aktuelle Corona-Politik gleicht dem Ritt auf der Rasierklinge. Zumal die Verantwortlichen auf allen Ebenen das Boostern und die Impfung von Kindern unter zwölf Jahren verschlafen haben. Man konzentrierte sich derart auf den Widerstand der Impfgegner, dass der kooperative und verantwortungsbewusste Teil der Bevölkerung glatt vergessen ging. Diese Mehrheit muss sich inzwischen darauf einrichten, eher vom Virus geboostert zu werden anstatt von der Auffrischimpfung. Zyniker würden sagen: Danke fürs Mitmachen!
Offiziell begründet der Bundesrat sein Nichtstun damit, dass er zuwarten möchte, bis sich eine Überlastung der Krankenhäuser abzeichnet. Das klingt erst recht zynisch. Denn wenn es in der Vorhersage von pandemischen Verläufen eines nicht gibt, ist es chirurgische Präzision. Orientiert sich der Bundesrat tatsächlich an den Kapazitäten der Spitäler, wird er sie mehr als überfordern. Es ist wie bei einem Gambler, der «all-in» geht: So etwas kommt allein mit aberwitzig viel Glück gut heraus.
Als ob das alles nicht genug wäre, erscheint nun eine neue Mutation am Horizont. Noch ist unklar, welche Gefahr von Omikron ausgeht. Ende August jedoch warnte der Immunforscher Sai Reddy von der ETH im Interview mit SonntagsBlick: «Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine neue Variante auftaucht, bei der wir uns nicht mehr nur auf die Impfung verlassen können. Und wo auch immer sie entsteht, wird sie mit Sicherheit die Schweiz erreichen.»
Dieses Übergreifen gilt es hinauszuzögern. Im besten Fall natürlich so lange, bis sich hoffentlich herausstellt, dass vom Erreger-Typus kein zusätzliches Risiko ausgeht. Oder dann eben, wenn irgendwie möglich, bis die Impfungen angepasst sind. Alpha und Delta benötigten jeweils rund vier Monate, bis sie sich hierzulande festgesetzt hatten. Um es Omikron schwer zu machen, muss mehr passieren, als ein paar Flüge nach Südafrika zu streichen. Das wirksamste Mittel wäre eine Quarantäne für Einreisende aus sämtlichen Staaten, die nicht unmittelbar an die Schweiz grenzen.
Bloss: Wird der Bundesrat die Entschlossenheit aufbringen, beispielsweise den britischen Wintertouristen solche Hürden aufzuerlegen? So wie er der Krise zuletzt begegnet ist, sollte man damit im Grunde ja nicht rechnen.
Vielleicht ist Omikron freilich auch genau der Weckruf, den unsere Regierung braucht, um alles – wirklich alles! – Notwendige zum Schutz der Menschen in diesem Land jetzt doch noch zu
veranlassen.