Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
Einfach Nein sagen reicht nicht, Herr Maurer!

Nun heisst es Abstandhalten. Verzicht üben. Die epidemiologisch gebotene Tristesse wird uns aufs Gemüt schlagen. Umso wichtiger sind jetzt kluge und engagierte Politiker, die Zuversicht verbreiten und neue Perspektiven eröffnen.
Publiziert: 01.11.2020 um 09:46 Uhr
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Aktualisiert: 01.11.2020 um 12:21 Uhr
Gieri Cavelty, Chefredaktor SonntagsBlick.

Alain Berset hat einmal gesagt, Corona sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Trotzdem glaubten manche bis vor kurzem, das Virus sei aus der Welt. Darunter Verantwortungsträger, die es besser hätten wissen müssen.

Nein, Corona ist kein Sprint. Und doch wählte Alain Berset das falsche Bild. Denn Corona ist auch kein
Marathon. Covid-19 setzt keine Glückshormone frei, es gibt keine messbare Leistung und keine bewundernden Blicke vom Strassenrand. Eine Pandemie ist das Gegenteil von Sport. Sie ist zähes, zehrendes, zerstörerisches Siechtum.

Senioren sind an Leib und Leben gefährdet. Dem Personal in den Corona-Stationen der Krankenhäuser steht eine belastende Zeit bevor – eine einzige Extremsituation, die sich über ein halbes Jahr hinziehen wird. Gewerbetreibende schlittern in den Ruin, Künstler ebenso. Hunderttausende Arbeitnehmende bangen um ihre Stelle.

Der griechische Begriff «Pandemie» bedeutet wörtlich «die ganze Bevölkerung». Zwar sind nicht alle im selben Ausmass von Corona betroffen. Aber jedem Einzelnen ist verboten, was das Menschsein ganz wesentlich ausmacht: Geselligkeit und Lebensfreude.

Furcht, Unsicherheit sowie die epi­demiologisch gebotene Tristesse werden aufs Gemüt schlagen. Die Schweiz steht – wie sämtliche Länder in Europa – am Rande einer kollektiven Depression. Psychiater haben in Experimenten nachgewiesen, dass für Patienten mit Depression die Zeit besonders langsam verläuft;
im Extremfall steht sie einfach still. Herbst und Winter werden für viele von uns also gar nicht enden wollen.

Wer an den Schalthebeln der Macht sitzt, kann sehr verschieden auf eine solche historische Herausforderung reagieren.

Er kann etwa das Folgende sagen: «Die Schweiz kann sich nicht nochmals 30 Milliarden Franken leisten.» Mit diesen Worten teilte Bundesrat Ueli Maurer notleidenden Firmen und Institutionen mit, dass sie nicht auf weitere Finanzhilfe hoffen dürfen. Ein Beamter im Staatssekretariat für Wirtschaft formulierte die gleiche Absage noch knapper: «Der Staat kann nicht alle Betriebe retten.»

Im gleichen Spital krank ist Ruth Humbel. Die Aargauer CVP-Politikerin und Vertreterin der Krankenkassen im Nationalrat sagte diese Woche dem «Tages-Anzeiger»: «Das Pflegepersonal hat eine gesicherte Anstellung. Und so miserabel ist dessen Verdienst auch nicht.»

Liebe Frau Humbel, lieber Herr Maurer: Sie irren beide. Der Lohn des Pflegepersonals entspricht nicht ansatzweise dem Wert, den diese Menschen für die Gesellschaft erbringen! Und die reiche Schweiz kann sich durchaus weitere 30 Milliarden leisten. Ja, noch sehr viel mehr!

Statt zusätzlich Salz in die Wunden zu streuen, sollten die Ueli Maurers und Ruth Humbels in diesem Land
darum bemüht sein, Zuversicht zu verbreiten. Mit Worten – vor allem aber mit Engagement und klugen Einfällen.

Nur ein Beispiel: Wer in einem von Corona nachhaltig betroffenen Wirtschaftszweig tätig ist, braucht eine neue Perspektive. Sie oder er soll sich umschulen können, während die Lebenskosten aus einem speziellen, noch zu schaffenden Fonds der Nationalbank finanziert werden.

Gute Politik kann entscheidend dazu beitragen, dass die Trübsal im Land nicht offen in Verzweiflung oder gar Wut umschlägt. Das ist zwar schwieriger als herumzuposaunen, was derzeit alles nicht geht. Vom Gesundheitspersonal wird in der Corona-Krise allerdings ebenfalls erwartet, über sich hinauszuwachsen.

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