Es ist bedeutend einfacher, ein Fenster auf Papier zu zeichnen, als ein ganzes Haus zu bauen. Der Vergleich erscheint sicher seltsam – bis man sich vor Augen hält, was die neuen Corona-Impfstoffe der Firmen Biontech und Moderna vom herkömmlichen Impfen unterscheidet. Es liegen Welten dazwischen!
Bislang bestand ein Impfserum aus unschädlich gemachten Krankheitserregern. Entwicklung und Herstellung solcher Substanzen kosten Zeit und Ressourcen. So müssen für die jährliche Grippeimpfung 500 Millionen Hühnereier mit dem zu bekämpfenden Erreger infiziert und bebrütet werden... Bei der neuen Technik dagegen wird lediglich der genetische Bauplan – die sogenannte RNA – eines einzelnen Virusbestandteils in Fett gelöst und injiziert. Das genügt, um bei der gepiksten Person die Bildung von Antikörpern gegen das komplette Virus in Gang zu bringen.
Die Forscher sowohl von Biontech wie jene von Moderna brauchten je zwei Tage, bis sie ihren Impfstoff konzipiert hatten. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Gerade einmal zwei Tage waren nötig, um das Fenster hinaus aus der Pandemie zu skizzieren! Und da es sich um synthetische Stoffe handelt, lässt sich auch die Produktion von Milliarden Impfdosen in einem überschaubaren Zeitraum bewerkstelligen.
Rein technisch gesehen, erlebt die Medizin soeben den Eintritt ins Zeitalter des Streamings. Wie sich die Zuschauer bei Netflix einen Film dann zu Gemüte führen, wenn sie es wollen, ist die Corona-Impfung ein Medikament «on demand»: rasch, günstig, in jeder beliebigen Menge lieferbar.
Selbstverständlich geht es nicht an, die RNA-Technologie mit Netflix gleichzusetzen. Dazu ist sie für die Menschheit viel zu wichtig! Genau dieser Punkt verdient denn auch eine vertiefte Betrachtung: Welches Aufheben wird um Internetplattformen wie Netflix oder Amazon gemacht! Deren Chefs schmücken sich mit dem Etikett «innovativ» und begründen damit ihren immensen gesellschaftlichen Status, ihren Einfluss und Reichtum. Welche Werte diese angeblichen Innovatoren tatsächlich geschaffen haben – ja, ob sie überhaupt innovativ sind –, danach wird gar nicht mehr gefragt.
Wer hingegen kennt Steve Pascolo? Als Privatdozent an der Dermatologischen Klinik des Unispitals Zürich steht der 50-Jährige zuunterst in der Hackordnung der Forschergemeinde. Während die etablierte Wissenschaft die RNA-Technologie jahrzehntelang links liegen liess, leistete Pascolo mit seinen einsamen Forschungen die Vorarbeit für die Covid-Impfung. (Hinzu kommen weitere Anwendungsmöglichkeiten der RNA-Technologie, wie mein Kollege Sven Zaugg im neuen SonntagsBlick ausführt.) Ohne den Aussenseiter Pascolo müssten wir uns wohl nicht auf weitere fünf deprimierende Wochen im Lockdown einstellen, sondern auf Jahre des Darbens und Sterbens.
Corona hat uns allen die Wichtigkeit des Pflegepersonals bewusst gemacht, den Wert eines funktionierenden Gesundheitswesens, die Bedeutung des Sozialstaats, die Unverzichtbarkeit von Familie, Freunden und einer guten Nachbarschaft. Nun kann die Geschichte der Covid-Impfung helfen, unseren Blick dafür zu schärfen, was echte technische Errungenschaften sind – und was vor allem Marketing und Hype.
Steve Pascolo jedenfalls hätte den Nobelpreis für Medizin verdient, zusammen mit den Chefs der deutschen Firma Biontech, Ugur Sahin und Özlem Türeci. Und obendrein – so wie Pascolo es sich selbst wünscht – ein eigenes Forschungsinstitut an der ETH mitsamt Fabrik, wo die Schweiz ihre RNA-Arzneien on demand künftig selber herstellen könnte.