Sprechen Virenforscher von «Impfdruck», dann meinen sie einen komplizierten evolutionären Vorgang. Im Kern geht es dabei um den Druck, den die Impfung auf das Virus ausübt. Sprechen Impfgegner von «Impfdruck», dann beklagen sie sich, dass man sie zum Impfen zwingen will.
Impfdruck: ein Wort, zwei Bedeutungen. Man kann das so verstehen, dass Virenforscher und Impfgegner einfach aneinander vorbeireden. Man kann daraus allerdings auch den Schluss ziehen: Die Impfgegner identifizieren sich sprachlich mit dem Virus. Den Druck auf den Erreger betrachten sie als Druck auf sich selbst. Und es ist ja auch so, dass die Spritze für sie das grössere Übel bedeutet als die Krankheit.
Doch wie stark ist überhaupt der Impfdruck auf die Menschen? Klar, der Bundesrat denkt neuerdings über eine Ausweitung des Covid-Zertifikats nach, etwa für Restaurantbesuche. Dass er diesen Schritt aber nur erwägt und nicht längst vollzogen hat – dies allein zeigt, wie sehr unsere Landesregierung den Unmut der Impfgegner fürchtet. Zumindest bislang waren es also ausschliesslich die Impfgegner, die Druck ausgeübt haben. Und zwar mit Erfolg.
Warum scheut sich der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer davor, seinen Mitgliedern die Impfung
ausdrücklich zu empfehlen? Eben.
Eine besonders unappetitliche Rolle spielt Gastrosuisse, der Verband der Restaurantbetreiber. Dessen Präsident wettert in schriller Tonlage gegen eine mögliche Ausweitung der Zertifikatspflicht. Zugleich kommt es dem obersten Wirt partout nicht in den Sinn, den Restaurantbesuchern die Impfung ans Herz zu legen. Weshalb geht er nicht mit gutem Beispiel voran und lädt zu einem Impfanlass in sein schönes Hotel in Kandersteg?
Man könnte meinen, ausgerechnet der Chef von Gastrosuisse lege es darauf an, dass die Restaurants wieder geschlossen werden. Hauptsache, die Impfgegner bleiben unbehelligt.
Im SonntagsBlick vergangener Woche publizierten wir ein Interview mit dem Immunforscher Sai Reddy von der ETH Zürich. Das Gespräch fand weltweit Echo, das amerikanische Wirtschaftsmagazin «Forbes» berichtete darüber, die indonesische Zeitung «Republika», die britische «Sun». Sie fokussierten auf Reddys Warnung vor einer neuen, gefährlicheren Corona-Mutation, Covid-22, wie er sie nennt. Noch mehr Beachtung freilich verdient Reddys Hinweis, wie sehr Ungeimpfte nicht nur sich selbst gefährden, sondern auch ihre Mitmenschen. «Wir werden im Herbst einen Anstieg der Fälle und damit auch der Impfdurchbrüche erleben», erklärt der Immunologe. «Allerdings nicht, weil die Impfstoffe schlecht wirken, sondern weil wir eine tiefe Impfrate haben. Deshalb werden viel mehr Viren zirkulieren.»
Was Reddy damit sagt: Die Impfgegner identifizieren sich nicht bloss sprachlich mit dem Virus, sie machen gemeinsame Sache mit ihm und sichern seinen Fortbestand.
Unsere Gesundheitsbehörden haben es bis anhin nicht gewagt, diese unangenehme Wahrheit offen auszusprechen. Die Impfkampagne beschränkt sich auf die Botschaft, dass sich jede und jeder selber schützen soll. Das ist gut gemeint. Zu viel Rücksichtnahme auf die Gefühle der Impfgegner indes könnte dazu führen, dass unsere Spitäler über kurz oder lang wieder an ihre Kapazitätsgrenzen stossen.
Natürlich wächst beim Nahen der kühleren Jahreszeit der Druck, weil sich das öffentliche Leben bald wieder vermehrt in die Innenräume verlagert und die Ansteckungen weiter zunehmen. Noch aber haben wir die Wahl, welche Art von Druck es sein soll: Druck auf das Virus oder Druck auf das Gesundheitswesen?