Seit genau einem Jahr ist Covid-19 in der Welt. China datiert die erste Infektion auf den 17. November 2019. Das Wort «Jahrestag» allerdings würde zu rund, zu harmonisch klingen. Unsere aktuelle Befindlichkeit ist treffender mit der Zahl 255 beschrieben: Vor so vielen Tagen rief die Weltgesundheitsorganisation den Pandemiefall aus. 255 Tage stehen für – nichts. Wir stecken irgendwo im Seuchenverlauf und warten auf bessere Zeiten. Die Tage kommen, die Tage gehen. 254, 255, 256 …
Gewiss: Die Nachrichten über eine aussichtsreiche Corona-Impfung geben Hoffnung. Zugleich geht gerade jetzt Unfassbares vonstatten. In den vergangenen zwei Wochen hat das Virus in der Schweiz 1046 vornehmlich ältere und alte Menschen getötet. Egal, wie sich die Infektionszahlen bis Ende Jahr noch entwickeln, so viel lässt sich heute bereits sagen: Letztmals starben hierzulande anno 1918 mehr Menschen, als dies 2020 insgesamt der Fall sein wird; damals forderte die Spanische Grippe auch massenhaft jüngere Opfer.
«Sie het nüme d Chraft gha dr Kampf gäge Corona z gwinne», steht in einer Todesanzeige. In einer anderen: «Corona hat in dir noch einmal die Kämpferin geweckt.» Darüber hinaus jedoch findet das grosse Sterben wenig Widerhall. 1046 Tote innert 14 Tagen, und es gibt keine Traueradresse des Bundesrates, keine Fahnen auf halbmast, kein öffentliches Gedenken.
Es gibt keinen politischen Vorstoss, der fragt, warum das Sterberisiko in der Schweiz derzeit fünfmal höher liegt als in Deutschland. Und erst recht wird nicht gefragt, wie es Südkorea gelungen ist, das Virus in Schach zu halten. Dort beträgt die Gesamtzahl der Corona-Toten 503. Bei 50 Millionen Einwohnern.
So bitter nötig eine vertiefte Aufarbeitung des Geschehenen ist, mitten in der zweiten Welle ist nicht die Zeit, um darüber zu diskutieren, wer welche Fehler begangen hat. Manche Lehre lässt sich aus dem bisherigen Verlauf des Corona-Herbstes trotzdem schon ziehen.
Beispielsweise profitiert die Krankheit offensichtlich von der politischen Kleinräumigkeit unseres Landes. Der tägliche Bewegungsradius vieler Schweizerinnen und Schweizer reicht weit über ihren Wohnkanton hinaus. Man lebt im Aargau, arbeitet in Zürich, fährt am Wochenende nach Luzern. Darum bringt es wenig, wenn ein einzelner Kanton Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie anordnet. Wirksam sind solche Regeln nur, wenn sie mehrere Kantone einer Grossregion gemeinsam, gleichzeitig – und rechtzeitig – erlassen.
Schockierend ist, wie sich Spitäler dagegen gewehrt haben, Intensivpflegeplätze für Patienten aus anderen Kantonen bereitzustellen. Zur Begründung hiess es: Würden die Betten reserviert, aber nicht belegt, erlitten die Krankenhäuser finanzielle Verluste.
Hier wird erkennbar, wie sehr sich unsere Medizin in eine ungesunde Richtung entwickelt hat. Die Politik zwingt die Spitäler, wie Unternehmen zu handeln, Ärzte wie Manager. Nicht das Heilen und das Bewahren der Menschenwürde stehen an erster Stelle, sondern die Rendite.
Es ist nicht zuletzt diese Logik, die dafür gesorgt hat, dass das Schweizer Gesundheitssystem das teuerste in ganz Europa ist (weil unnötige, freilich gewinnbringende Eingriffe durchgeführt werden). Und es ist diese Logik, die in den letzten Wochen dazu geführt hat, dass das teuerste Gesundheitssystem Europas im Notfall nicht einmal reibungslos funktioniert.
Corona ist ein guter Anlass, über die Ausrichtung des Gesundheitswesens grundsätzlich nachzudenken. In jedem Fall dürfen Planung und Bereitstellen von Intensivbetten nicht länger dem Marktdenken unterworfen sein. Sie müssen zur Bundesaufgabe gemacht werden.
So viel zu Tag 255. 24 Stunden, in denen scheinbar wenig passiert – und in Wahrheit wieder dutzendfach die Welt untergeht.