Erinnerungen aus der Jugend sind immer mit Orten verbunden. Einer davon ist für mich Ponte Brolla, wo die Maggia in Jahrtausenden bizarre Formen aus Stein geschaffen hat, bevor sie ihr Tal durch die enge Schlucht in Richtung Lago Maggiore verlässt.
Heute, im Corona-Sommer 2020, herrscht dort sinnenfeindliches Gedränge. Die halbe Nation, abgeschreckt von der Länder-Risikoliste des Bundes, scheint sich dort auf den Füssen herumzustehen.
Im Tessin, wo die Schweiz in den Kulturraum südlich der Alpen hineinragt, spiegelt sich das ereignisreiche Jahr 2020: Hier schlug die Covid-Pandemie im Frühling am heftigsten zu. Und hier zeigen sich die Vorboten des politischen Herbstes am deutlichsten. Denn der corona-bedingte Dichtestress im Südkanton müsste den Gegnern der SVP-Begrenzungs-Initiative zu denken geben. Bei Parkplatzmangel, vollen Stränden und Warteschlangen vor dem Grotto wird das Gespenst einer 10-Millionen-Schweiz sichtbar.
Ausserdem hat kein anderer Kanton eine so zwiespältige Beziehung zur Landesgrenze: Die Nähe zum Seuchen-Hotspot Lombardei hat die Bevölkerung an deren Schutzfunktion bei der Abwehr unvorhersehbarer Risiken erinnert. Gleichzeitig sagt der Tessiner Tourismus-Chef im SonntagsBlick-Interview, wie wichtig offene Schlagbäume zum Nachbarland seien: «Ohne die Grenzgänger wäre die hiesige Wirtschaft nicht überlebensfähig.»
Ob am 27. September die Angst vor der Übervölkerung überwiegt oder die Angst vor einem Wohlstandsverlust, wird sich zeigen. Auf jeden Fall machen es sich die Gegner zu einfach, wenn sie sich auf Umfragewerte berufen oder hoffen, dass Christoph Blochers Ruhegehaltsforderung den Match entschieden hat.
Nicht zu vergessen: Kein anderer Kanton hat 2014 so massiv für die SVP-Masseneinwanderungs-Initiative gestimmt wie das Tessin.