Liebe Leserin, lieber Leser
Gleich nach dem Einschlafen weckt mich das «Pling!» des Handys. Zwar ist es nur ein Spam-Mail, da ich aber schon mal wach bin, surfe ich noch ein wenig durch die Nachrichtenportale und auf Social Media. Nach so vielen Eindrücken ist an Schlaf natürlich nicht mehr zu denken, ich erledige also liegen gebliebene Korrespondenz aus dem Büro. Gegen fünf Uhr soll die Nachtruhe doch zu ihrem Recht kommen; selbstverständlich vergesse ich jetzt auch nicht, das Smartphone in den Flugmodus zu versetzen. Ein Kontrollblick zehn Minuten später gibt mir die Gewissheit, dass das Handy die letzten zehn Minuten effektiv nicht auf Empfang gewesen ist. Auch ist in dieser Zeit kein neues Mail eingegangen. Dafür erinnert mich die Agenda – pling! – an eben jenen Termin, den ich verpasse, weil ich kurz vor sieben Uhr unglücklicherweise das Bewusstsein verliere.
Die kleine Geschichte ist selbstverständlich nicht wahr. Ich habe sie während einer schlaflosen Nacht erfunden.
Wahr allerdings ist: Der geraubte Schlaf dürfte das wichtigste Thema unserer Zeit sein. Auf jeden Fall ist es ein Thema unserer Zeit: In einer aktuellen Umfrage klagen 80 Prozent der Deutschen über Schlafprobleme – 2010 waren es 48 Prozent. Die Studienleiter gehen davon aus, dass diese Zunahme in direktem Zusammenhang mit dem Siegeszug des Smartphones steht. So wie uns das Handy ständig auf dem Laufenden hält, so läuft auch unser Hirn viel zu oft und viel zu lange auf Hochtouren. Wir schalten nicht mehr ab.
Weil sich der Schlaf heute rar macht, wird aus diesem an sich profanen biologischen Grundbedürfnis plötzlich ein Luxus – im wahrsten Sinne des Wortes: Teure «Schlafkliniken» machen gute Geschäfte, Hotels verheissen exklusive Schlummererlebnisse, das eigene Schlafzimmer wird aufgemotzt mit Kingsize-Bett und orthopädischer Matratze. Und das Handy – ausgerechnet! – mahnt den Nutzer zur Nachtruhe. «Lege regelmässige Bett- und Aufwachzeiten fest und halte sie ein», gebietet eine auf dem iPhone fest installierte App. Gegen Bezahlung gibt es weitere Programme: Tracker zur Schlafanalyse und -optimierung, beruhigende Geräuschkulissen, Apps zur Abwehr von Albträumen.
Vielleicht hilft es aber auch schon, das Handy aus dem Schlafzimmer zu verbannen? Und stattdessen ein Buch mitzunehmen. Am besten eine richtig altmodische Lektüre. Zum Beispiel Thomas Mann: Seine Schwärmereien über das Bett, diesen «Zaubernachen, der über Tag verdeckt und unscheinbar seinen Winkel einnimmt, und in dem wir jeden Abend hinausschaukeln auf das Meer des Unbewusstseins und der Unendlichkeit».
Sollte jemand nach solch wunderbar mäandernden Sätzen nicht unverzüglich in milden Schlummer sinken – dann sollte er oder sie vielleicht doch professionelle Hilfe in Anspruch nehmen. Aber wirklich erst dann!
Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen
Gieri Cavelty