Liebe Leserin, lieber Leser
Remo Largo braucht man niemandem mehr vorzustellen. Er ist einer der klügsten Männer der Schweiz. Ein Kinderarzt, dessen Sachverstand als Wissenschaftler tiefe Einsichten in die menschliche Existenz erlaubt.
Largos jüngstes Buch, Ende Mai erschienen, heisst «Das passende Leben». Es ist die Summe seiner Forscherarbeit – und ein Plädoyer für mehr Individualismus, vor allem in der Erziehung. Jeder Mensch, so Largos einfach klingende, aber schwierig in die pädagogische Praxis umzusetzende Botschaft, ist einzigartig und muss sich entsprechend entfalten dürfen.
Wie weit individuelle Förderung gehen kann, zeigt das Beispiel des 13-jährigen Anatol Toth auf diesen Seiten. Der herausragende Geigen- und Schachspieler hat nie ein Schulhaus von innen gesehen. Sein künstlerisches Talent perfektioniert der junge Berner unter Anleitung einer Professorin für Violine und Kammermusik. Alles andere bringt er sich selber bei.
So faszinierend sich die Bildungsbiografien von Anatol und seinen Geschwistern lesen – als nachahmenswerte Vorbilder eignen sie sich nicht. Die wenigsten haben das Zeug zum Spitzengeiger oder Schachgrossmeister. Ebenfalls fest steht: Die Volksschule ist die wichtigste pädagogische Einrichtung der letzten 200 Jahre. Sie bildet das Fundament unserer Gesellschaft, unseres Staatswesens, unseres Wohlstands. Dieses Fundament darf nicht untergraben werden. Das heisst auch: Von der allgemeinen Schulpflicht darf grundsätzlich nicht abgewichen werden.
So viel jedoch soll uns das Beispiel Anatol lehren: Unsere Kinder verdienen einen Unterricht, der ihre Neigungen und Talente fördert. Nur eine verschwindend kleine Minderheit hat wie Anatol wirklich geniale Züge – seine Stärken aber hat jeder. Sie müssen erkannt und entwickelt werden.
Gerade im digitalen Zeitalter tut eine individuelle Pädagogik zunehmend not. In ihrem Buch «The Second Machine Age» schreiben die renommierten US-Ökonomen Erik Brynjolfsson und Andrew McAfee: Weil immer mehr Tätigkeiten von Computern ausgeübt werden, braucht es mehr kreative, eigenwillige Köpfe, mithin einen entsprechenden Schulunterricht. Die Autoren unterstreichen ihren Appell mit einer verblüffenden Feststellung: Die Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin, Amazon-Boss Jeff Bezos, Wikipedia-Erfinder Jimmy Wales – all diese Grössen der digitalen Welt waren einst kleine Montessori-Schüler. Alle vier wurden also nach Prinzipien geschult, die das selbständige Lernen ins Zentrum stellen.
Apropos digital: Schauen Sie nach der Lektüre des SonntagsBlicks auf unserem Onlineportal vorbei. Hier finden Sie ein Video mit einer Hörprobe von Anatol Toths Violinkünsten. Das Wunderkind spielt die «Zigeunerweisen op. 20» von Pablo de Sarasate.
Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen
Gieri Cavelty