Liebe Leserin, lieber Leser
Didier Burkhalter ist grandios an seiner Europapolitik gescheitert. Drei Jahre lang hatten ihm die Kolleginnen und Kollegen im Bundesrat freien Lauf gelassen – dann stellten sie plötzlich kritische Fragen und wandten sich schliesslich von ihm ab.
Offenbar fiel Burkhalters grösste berufliche Niederlage für ihn in eine Phase der privaten Krise. Aus FDP-Kreisen ist zu erfahren, dass ein Familienmitglied des Aussenministers unter psychischen Problemen leidet. Burkhalter wolle seiner Familie in dieser schwierigen Zeit einfach ein guter Vater sein. Deshalb der Rücktritt.
Wenn ein Bundesrat demissioniert, weil er in seinem Kerndossier gescheitert ist, steht natürlich der Verdacht im Raum, dass seine politischen Freunde dafür lieber andere, edlere Motive sehen. Denn das nützt der Partei. Wobei gesagt sein muss: Burkhalter selbst darf dies in keinem Fall zum Vorwurf gemacht werden. Er hat sich öffentlich eben nicht zum Thema geäussert.
Andererseits widersprechen sich die Gründe ja auch nicht. Es klingt sogar plausibel, dass ein Zusammenkommen von beruflichem Totalschaden und familiärem Unglück den Neuenburger zu seinem überraschenden Abgang veranlasst hat.
Aber handeln wir nicht unethisch, wenn wir Journalisten die familiäre Komponente prominent zum Thema machen? Das Familiäre wird in unserer Berufswelt stets schön ausgeklammert. Nach Auffassung des Arbeitgeberverbandes zum Beispiel ist es allein das Problem der
Familien, wenn die Kinder krank sind oder man sich um die betagten Eltern kümmern muss. Wer das Büro um 17 Uhr verlässt, um den Sprössling in der Kita abzuholen, erntet schiefe Blicke. Allzeit bereit im Büro und ein intaktes Familienleben – das verträgt sich nun mal nicht immer.
Wenn Didier Burkhalters Rücktritt dazu beiträgt, dass man über diese Tabuthemen spricht: Dann hoffen wir, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, uns Ihrerseits den Tabubruch verzeihen, das Privatleben eines amtierenden Bundesrats zum Thema zu machen. Dafür wollen wir auch nicht mehr länger auf seinem europapolitischen Scheitern herumreiten.
Denn hier geht es um die ganz grossen Fragen: Was wollen wir eigentlich in unserem Leben? Was gilt als Arbeit? Weshalb werden essenzielle Tätigkeiten, ohne die kaum ein Mensch überleben kann – Fürsorge, Pflege – nicht als wertvoll erachtet?
Von Burkhalters FDP dürfen wir in einem ersten Schritt zumindest erwarten, dass sie progressiver mit der Vereinbarkeit von Familie und Beruf umgeht. Junge Männer etwa sollen darauf hoffen dürfen, dass sich der Freisinn künftig für einen grosszügig bezahlten Vaterschaftsurlaub engagiert!
Letzte Woche, als Didier Burkhalter seinen Rücktritt erklärte, starb auch Europas bedeutendster Staatsmann – und man erhielt Einblick in das kaputte Familienleben von Helmut Kohl.
Auch hier die Frage: Wie viel Privates darf beruflicher Erfolg eigentlich kosten?
Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen
Gieri Cavelty