Vor zwei Jahren bin ich Rahel das letzte Mal begegnet. Zufällig, im Zug. Sie hatte irgendwo im Aargau einen Kurs für indischen Tempeltanz besucht und war auf dem Heimweg nach Brig. Zu ihrem Mann und den beiden Töchtern. Es tue gut, einmal im Monat aus dem Wallis herauszukommen, sagte sie. Aber natürlich gehe nichts über ihre Familie.
Ein ganz normales Frauenleben halt.
Wir hatten gemeinsam die Kantonsschule in Chur besucht. Latein und Altgriechisch lernte schon in den 90er-Jahren nur eine Handvoll Schüler. Und so hatte man unweigerlich viel miteinander zu tun. Für ihre Maturaarbeit über den Lateinunterricht in den 1930er-Jahren bekam Rahel einen Preis von «Schweizer Jugend forscht».
Wir gingen dann beide an die Uni Zürich. Rahel studierte Publizistik, machte 2004 das Lizenziat. Zum Schluss hatte sie es eilig. Ihr Partner war Amerikaner, sie wollte so rasch wie möglich mit ihm nach San Francisco ziehen.
Dort jobbte sie auf dem Schweizer Konsulat, einmal veröffentlichte sie in der NZZ einen Artikel über Bären in den USA. 2008 schrieb sie mir ein Mail: Ihre Beziehung sei in die Brüche gegangen. Ob ich eine Unterkunft in Bern wisse, sie habe ein Vorstellungsgespräch bei der Swisscom. Ich wusste keine. Nach Bern zog Rahel trotzdem.
Wir sahen uns jetzt vielleicht alle paar Monate. Meist zufällig, ab und zu auf einen Kaffee. Einmal ging sie mit meiner Frau spazieren. Beim Berner Bärenpark purzelte unser Sohn den Hügel hinunter. «Ich hatte Angst, er landet in der Aare», sagte meine Frau am Abend. Noch immer etwas aufgeregt.
Natürlich ist das aber nicht passiert. Natürlich passieren normalen Menschen keine schrecklichen Dinge.
Einige Wochen später schrieb mir Rahel, sie habe jemanden kennengelernt. Er sei Historiker, habe lange im Verteidigungsdepartement gearbeitet. Igor würde gerne meine Bekanntschaft machen. Dazu ist es nicht gekommen, Rahel zog zu Igor nach Brig, bald kam die erste Tochter auf die Welt. Da hat man keine Zeit für alte Bekannte.
So spielt das Leben.
Am Freitag vor einer Woche wurde Rahel von ihrem Igor getötet.
Wenn in der kommenden Woche dem Mörder von Rupperswil der Prozess gemacht wird, ist das von grosser gesellschaftlicher Bedeutung. Diese Wahnsinnstat hat viel zu viel durcheinandergebracht in unserem Land. Sie hat unser Urvertrauen in die Menschlichkeit unserer Mitmenschen erschüttert.
Ein Gerichtsprozess lebt von Formeln, Regeln, Ritualen. Jeder Beteiligte bekommt seine fixe Rolle zugewiesen. Der Prozess rückt auf symbolische Weise alles wieder zurecht, schafft aufs Neue Vertrauen. Auf diese Weise erobern sich Staat und Gesellschaft die Hoheit über das Geschehen zurück. Am Ende siegt die Ordnung, nach einem korrekten Verfahren wird der Täter ordentlich bestraft.
Was der Prozess gegen den Mörder von Rupperswil hingegen nicht schaffen kann, ist Gerechtigkeit. Für die Auslöschung einer Familie gibt es keine Gerechtigkeit.
Auch ist gewiss, dass das Böse wieder zuschlagen wird. Meist weniger aufsehenerregend als in Rupperswil. Unsagbar ist das Leid aber in jedem einzelnen Fall.
Rahel, Mutter zweier Töchter, ist die neunte Frau, die seit Anfang Jahr in der Schweiz von ihrem Mann umgebracht wurde.