Liebe Leserin, lieber Leser
Geselliger Abend in einem Zürcher Spunten. Am Nebentisch drei Damen, deren Äusseres – Wolle, Wildseide, Silberschmuck und schon etwas schütteres, graues Haar – keinen Zweifel lässt: Althippies. Verwelkte Blumenkinder eben; Babyboomer mit Patina. Sie bestellen ein weiteres Halbeli Dôle. Und diskutieren angeregt: Ist es asozial, in der Migros den Self-Check-out-Schalter zu benutzen? Nein, findet die in Lila. Doch!, entgegnet die in Ockergelb: Damit beraube man die Kassiererinnen ihres Arbeitsplatzes. Die in Orange findet: Wer Theaterbillette online bestelle, mache dasselbe.
Ob den dreien bewusst ist, frage ich mich, dass sie jener Generation angehören, die den Grundstein dafür legte, worüber sie gerade reden?
1968 ist im neuen Jahr genau ein halbes Jahrhundert her. Mit der Rebellion der Jugend begann eine gesellschaftliche Umwälzung, die von den Hörsälen und Büros bis ins Schlafzimmer reichte. Dem Geist der individuellen Freiheit entsprang auch die Entwicklung des Personal Computers, der Boom im Silicon Valley. Und Steve Jobs, der 2007 das erste iPhone präsentierte. Die mächtigsten Männer der Erde tragen heute Pullover und Turnschuhe.
Das Resultat ist eine beschleunigte Gegenwart ohne Selbstverständlichkeiten. Was morgen ist, weiss niemand, schon gar nicht die Medien. Die Welt entwickelt sich nicht mehr linear. Disruption ist das Stichwort. Betroffen ist auch der Service public: Ab Januar müssen sich Postangestellte neu für ihren Job bewerben. Früher galt der gelbe Riese als Arbeitsgarant. Die einst allmächtige SRG muss zittern, weil 451 Franken Gebühr den Millennials absurd erscheinen. Der Online-Videodienst Netflix erreicht derweil 82 Milliarden Dollar Börsenwert. Dem No-Billag-Effekt geht Lukas Bärfuss, streitbarster Schweizer Schriftsteller, in diesem SonntagsBlick auf den Grund.
Als die Damen die Rechnung zahlen, nimmt die in Lila ihr Smartphone und posiert mit ihren zwei Freundinnen für ein Selfie.
Ein frohes neues Jahr wünscht Ihnen
Reza Rafi