Man reibt sich die Augen: Es ist nicht allein die Acht-Tage-Regel, die eine Einigung über das Rahmenabkommen mit der EU verunmöglicht. Weit höher ist eine andere Hürde, über die bisher niemand gesprochen hat: Brüssel verlangt von der Schweiz die Übernahme der sogenannten Unionsbürgerrichtlinie. Im Vergleich zur heute geltenden Personenfreizügigkeit würde die Richtlinie mit dem fürchterlich komplizierten Namen zu weiteren Ansprüchen von EU-Bürgern in der Schweiz führen, insbesondere bei Sozialhilfe und Familiennachzug.
Konkret verlangt Brüssel von Bern unter anderem, dass sämtliche EU-Bürger hierzulande nach fünf Jahren Aufenthalt die gleichen Ansprüche an den Sozialstaat stellen dürfen wie Schweizer. Heute haben EU-Bürger in der Schweiz dieses Recht erst nach 15 Jahren.
Für den Bundesrat war von Anfang an klar, dass man Herrn und Frau Schweizer mit solchen Forderungen gar nicht erst kommen muss. Die Landesregierung fürchtete: Sollte es zu einer Volksabstimmung über ein Rahmenabkommen inklusive Unionsbürgerschaft kommen, wäre ein Nein programmiert – und damit eine Situation, so misslich wie jene 1992, als die Schweiz den EWR-Beitritt ablehnte.
Aus diesem Grund hatte der Schweizer Chefunterhändler in Brüssel die strikte Anweisung, das Thema Unionsbürgerrichtlinie von der Traktandenliste zu bekommen. Nur war dem Mann leider bis zuletzt kein Erfolg beschieden – für die EU ist die Unionsbürgerschaft sogar die wichtigste aller Forderungen. Und deshalb erreicht uns diese Woche einmal mehr die Meldung vom Scheitern der Schweizer Europapolitik.
Was mich als Stimmbürger interessieren würde: Wie viele Personen sind von der Debatte eigentlich betroffen? Wie viele EU-Bürger würden bei einer Einführung der Unionsbürgerrichtlinie zusätzlich Anspruch auf Sozialhilfe haben – und wie viele würden solche Hilfe aller Voraussicht nach tatsächlich beziehen? Um welchen Betrag geht es? Ist es eine Summe, die hoch genug ist, dass es sich lohnt, auf einen Rahmenvertrag und damit auf ein langfristig gutes Einvernehmen mit der EU zu verzichten?
Leider kann und will man uns diese Fragen nicht beantworten. Der Bundesrat mag darüber nicht sprechen. Wie ein Elternpaar, das seinen Kindern die Wahrheit nicht zutraut, haben unsere Landesväter und -mütter die Bevölkerung gar nicht erst darüber informiert, worum es bei den Verhandlungen mit der EU wirklich geht.
Wie soll es bei so viel Angst vor der Debatte im Inland je eine konstruktive, intelligente Schweizer Europapolitik geben?
Aus Angst vor einem Nein an der Urne setzt der Bundesrat das Rahmenabkommen gleich selber in den Sand.
Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Tolle Strategie!