Für wie viel Schlaflosigkeit hat dieser Gerichtsprozess im Land schon gesorgt! Wir haben an unserer Redaktionssitzung ausführlich darüber diskutiert: Wollen wir nicht dagegenhalten und einen SonntagsBlick ganz ohne Rupperswil herausbringen?
Wir haben die Idee verworfen.
Der Mensch ist das Verstehenstier. In unseren Köpfen verweben wir einzelne Eindrücke automatisch zu einer sinnvoll erscheinenden Geschichte. Der Psychologe Daniel Kahneman nennt unser Hirn eine «Assoziationsmaschine», die darauf versessen ist, permanent Zusammenhänge zu konstruieren. Auf diese Weise behalten wir den Überblick.
Rupperswil entzieht sich einer solchen spontanen Einordnung. Entsprechend gross ist das Bedürfnis nach weiteren Informationen, nach weiteren Puzzleteilen, die uns helfen, das Geschehene irgendwie doch zu erfassen und zu verarbeiten.
Wir dürsten nach Antworten.
Darum der Gerichtsprozess, darum unsere Auseinandersetzung mit dem Thema in der heutigen Ausgabe des SonntagsBlicks.
Rupperswil stellt das Fundament unserer modernen Gesellschaft radikal in Frage: den Gesellschaftsvertrag. Der Philosoph Thomas Hobbes hat das vor über 350 Jahren so formuliert: Jedes Gesellschaftsmitglied verzichtet darauf, selber Gewalt anzuwenden, unterwirft sich dem staatlichen Gewaltmonopol – als Gegenleistung erwarten wir vom Staat umfassenden Schutz.
Rupperswil wirkt für die Öffentlichkeit ähnlich verstörend wie ein Amoklauf. Auch Amokläufer sind Leute aus der vermeintlichen Mitte unserer Gesellschaft, die von «null auf tausend» zu Tötungsmaschinen werden.
Bloss ist Rupperswil noch heimtückischer. Rupperswil war eine Heimsuchung im wahrsten Sinne des Wortes. Die vertrauten vier Wände als Schauplatz eines Massakers, das ist der Stoff für die allerschlimmsten Albträume.
Daniel Kahneman, Thomas Hobbes, Amoktheorie – das klingt, zugegeben, ziemlich stratosphärisch. Und ja, diese Flughöhe steht in eklatantem Gegensatz zur Dürftigkeit der Erkenntnisse, die der Rupperswil-Prozess letztlich an den Tag gebracht hat.
Man kann sich noch so in die Biografie des Täters vertiefen. Noch so dessen Verhältnis zur Mutter beleuchten. Noch so den Tathergang studieren. Am Ende steht auch nach der intensivsten Beschäftigung mit dem Fall Rupperswil nur eine einzige Erkenntnis: Für dieses Grauen findet unser Kopf keine Erklärung.
Das aber ist nicht nichts. Zwar steht Rupperswil nach dem Gerichtsprozess und unzähligen journalistischen Artikeln als erratischer Block in unserer Erfahrungslandschaft. Immerhin jedoch steht der erratische Block nun
innerhalb dieser Landschaft und nicht mehr ausserhalb.
Zumindest für die nicht unmittelbar Betroffenen kann jetzt allmählich Gras darüber wachsen.
Solange nur der Täter verschwindet. Hinter den dicksten Gefängnismauern. Und uns endlich und für immer in Ruhe lässt.