BLICK auf die USA: US-Korrespondent Nicola Imfeld über seine drei Jahre in Amerika – die Abschieds-Kolumne
Hoffnung und Verzweiflung

Jede Woche schrieb USA-Korrespondent Nicola Imfeld in seiner Kolumne über ein Thema, das jenseits des Atlantiks für Aufsehen sorgt. Nach drei Jahren in Amerika geht es für ihn zurück in die Schweiz – die Abschieds-Kolumne.
Publiziert: 28.01.2021 um 00:45 Uhr
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Aktualisiert: 11.11.2022 um 11:43 Uhr
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Nicola Imfeld war drei Jahre lang USA-Korrespondent der Blick-Gruppe. Nun kehrt er zurück in die Schweiz.
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Nicola ImfeldTeamlead Wirtschaft-Desk

Drei Jahre lang durfte ich für die Blick-Gruppe als US-Korrespondent über Amerika berichten. Dabei konnte ich die Hälfte aller 50 Bundesstaaten bereisen. Es waren historische Zeiten; mit dem skandalösen Präsidenten Donald Trump (74), einer dramatischen US-Wahl, den Rassismus-Protesten und der Coronavirus-Pandemie. In den vergangenen zwei Jahren schrieb ich an dieser Stelle meine wöchentliche Kolumne «BLICK auf die USA» – mit der heutigen Nummer 75 ist nun Schluss.

Viel öfter als es mir lieb gewesen war, ging es hier um die politischen Spielchen in Washington und die Skandale von Trump. Gerne hätte ich nun zum Abschluss eine blumenhafte Kolumne geschrieben. Zum Beispiel über die unfassbare Vielseitigkeit dieses Landes, die Freundlichkeit der Menschen. Gerne hätte ich über meine vielerorts unterschätzte Heimat San Diego geschwärmt – der schönsten Stadt Amerikas. Aber mein journalistischer Anspruch ist ein anderer.

Denn bei einem letzten beruflichen Blick aufs Land überwiegen die Sorgen.

  • Ein Land, in dem das Gesundheitssystem und die Infrastruktur brach liegen.

  • Ein Land, das Menschen anderer Hautfarbe immer noch systematisch benachteiligt.

  • Ein Land, in dem junge Studenten nur gute Bildung erhalten, wenn sie sich über Jahre hinweg verschulden.

  • Ein Land, in dem die Selbstmordrate als Resultat von alledem, und vielem Weiteren, seit Jahren stetig steigt.

Das alles sind nicht abstrakte Dinge, die man nur so liest. Ich konnte alles in meinen drei Jahren beobachten:

  • Kollege Pierre geht an die San Diego State University, hat aber gleichzeitig Schulden im mittleren fünfstelligen Bereich. Zum Arzt geht er nicht, auch wenn er wochenlang einen rätselhaften und schmerzhaften Ausschlag am Fuss hat.

  • Mein Kumpel Carlos ist ein Afroamerikaner, dessen grösste Angst es ist, in eine Polizeikontrolle zu geraten. Anders als alle anderen wartet er in der Stadt am Fussgängerstreifen pingelig auf «grün», damit er ja keine Probleme kriegt.

  • Nachbar Edward ist mit seinem Auto in ein Schlagloch gefahren, musste tagelang auf Uber ausweichen. Der öffentliche Verkehr war keine Alternative, weil die Strecke mit dem Bus anstatt 20 Minuten über zwei Stunden dauert.

  • Kollege Alex, der US-Präsident werden möchte und nur absolute Bestnoten schrieb, aber von sämtlichen Top-Universitäten wie Harvard abgelehnt wurde, weil seine Eltern keine Kontakte haben.

  • Mein Bekannter Finnigan, der nach einer schwierigen Kindheit drogenabhängig wurde und sich von der Golden Gate Bridge stürzen wollte. Später ging er nach Italien, brachte bei einem schief gelaufenen Drogendeal einen Carabinieri um. Heute schmort er im Knast vor sich hin.

Warum die Schweiz Amerika braucht

Diese Probleme machen mir nicht nur Sorgen, weil mir Amerika persönlich ans Herzen gewachsen ist. Sondern auch, weil es uns in der Schweiz langfristig direkt betrifft. Den Vereinigten Staaten haben wir es unter anderem zu verdanken, dass wir in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg von ähnlichem Horror verschont geblieben sind. Und auch wenn die USA längst nicht immer nur die Heldenrolle auf der Weltbühne innehat, setzt sich das Land doch – aus Eigeninteresse – für unsere gemeinsamen westlichen Werte von Freiheit und Demokratie ein.

Ein schwaches Amerika, das so mit sich selbst beschäftigt ist, können wir uns im 21. Jahrhundert nicht leisten. Wir brauchen die Vereinigten Staaten im Kampf gegen den Klimawandel und im Umgang mit China – der grössten geopolitischen Herausforderung unserer Zeit.

Millionen von «verlorenen» Menschen

Doch Amerika ist derzeit ein Land, das gesellschaftlich so gespalten ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Ein Land, das eigentlich als demokratisches Vorbild für die Welt vorangehen sollte, aber in dem Millionen von Bürgern nicht mehr dem eigenen Wahlprozess vertrauen.

Diese Menschen sind es, was mir von diesem Amerika am stärksten in Erinnerung bleiben wird. Sie fühlen sich vergessen und übergangen. Für meine politische Berichterstattung habe ich viele im Nordosten und in den Südstaaten getroffen. Trump-Anhänger, die von der Globalisierung nicht profitiert und berechtigte Sorgen haben. Ausgenutzt von machthungrigen Politikern. In einer Welt gefangen, die nichts mehr mit der Realität zu tun hat.

Mit einigen von ihnen habe ich den Kontakt gehalten. Diskussionen versanden dabei stets, weil man sich auf die einfachsten Fakten nicht verständigen kann. Wie man diese Menschen in die Realität zurückholt, ist mir ein Rätsel geblieben.

Was ich aus Amerika in die Schweiz mitnehme

Dies droht uns in der Schweiz mit der direkten Demokratie, sieben Bundesräten und einer Bevölkerung mit wesentlich höheren Medienbildung nicht. Andererseits: Wer hätte bei der Jahrtausendwende geglaubt, dass ein US-Präsident wie Donald Trump an die Macht kommt und auch nach vier skandalösen Jahren über 74 Millionen Amerikaner anziehen könnte? Oder dass das Kapitol gewaltsam gestürmt wird – auf Anstiftung eben dieses Präsidenten?

Nach drei Jahren in Amerika weiss ich: Was man bei uns als demokratische Selbstverständlichkeit betrachtet, ist nicht selbstverständlich. Wir müssen in der Schweiz Sorge zur gepflegten Meinungsvielfalt tragen, diese gar zelebrieren. Konkret: Nur weil jemand den Klimaprotest auf dem Bundesplatz unterstützt – oder eben nicht – ist diese Person kein Feind. Sondern ein gleichwertiger Diskussionspartner.

Das Gleiche gilt bei uns Journalisten. Wir sind nicht die «Feinde des Volkes», wie es Trump zu sagen pflegt. Nur weil ein Artikel publiziert wird, der nicht dem eigenen Weltbild entspricht, ist es nicht «Fake News». Man soll uns hart kritisieren – ohne dabei gleich eine Weltverschwörung auszurufen oder Morddrohungen auszustossen.

Zum Schluss: Hoffnung

Bald steige ich in das Flugzeug – ab nach Hause in die Schweiz. Dabei erinnere ich mich, wie oft mir das Alter zur Last gelegt wurde: Ein Mittzwanziger, der «Bubi» als US-Korrespondent. Was dabei mit Sicherheit stimmt, ist, dass Weisheit mit dem Alter kommt. Ich konnte das nie bieten. Er aber schon:

Professor Robert Wang (68), 30 Jahre lang hochrangiges Mitglied der amerikanischen Regierung, unter anderem US-Botschafter in China. Ein stolzer Amerikaner, der im Ruhestand erfrischend kritisch ist. Wang scheut sich im privaten, informellen Gespräch nicht, Kritik am amerikanischen Weg zu äussern. Egal ob Bush, Obama oder Trump. Mit ihm habe ich per Telefon und vis-à-vis die interessantesten Gespräche geführt. Zwei haben es in diese Zeitung geschafft.

Letztmals habe ich ihn vor einer Woche in Washington getroffen. Ich habe ihm die Probleme Amerikas aufgelistet und gefragt, ob er denn trotzdem zuversichtlich sei. Seine weise Antwort möchte ich hier zum Schluss wiedergeben:

«Es gibt wie so oft allen Grund für Pessimismus. Aber meine Erfahrung lehrt mich etwas anderes. Ich bin 1963 als Zwölfjähriger mit meinen Eltern nach Amerika gekommen. Wenn ich heute im Jahr 2021 zurückschaue und eine Bilanz ziehen müsste, dann sehe ich den Fortschritt. In Amerika geht es seit 1963 voran. Langsam und immer wieder mit Rückschlagen. Aber es geht voran.»

Sein Wort in Gottes Ohr.

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