#aufbruch mit Patrizia Laeri
Digitale Versuchskaninchen

Das Virus hat uns auch mitten in das grösste Experiment aller Zeiten katapultiert: das digitale Lernen. Unsere Kinder sind die Online-Versuchskaninchen. Das Zuhause ist derzeit auch virtuelle Musikschule, Turnhalle und Klassenzimmer.
Publiziert: 14.04.2020 um 23:02 Uhr
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Aktualisiert: 15.04.2020 um 14:34 Uhr
Kolumnistin Patrizia Laeri über das Schweizer Chaos beim E-Learning.
Foto: Thomas Buchwalder
Patrizia Laeri

Zusammen mit anderen voll berufstätigen Eltern lehre ich derzeit vier Kinder auf vier verschiedenen Stufen mit vier andersartigen E-Learning-Ansätzen. Erschöpfter bin ich im Leben wohl nie ins Bett gesunken. Eltern sind im ständigen Download-Stress. Einen grossen Teil der Zeit verbringen wir mit Switchen. Dem Wechsel zwischen verschiedenen Apps, Plattformen, Tutorial-Videos, Live-Unterricht. Nie habe ich mir eine nationale E-Learning-Strategie mehr gewünscht.

Viele Länder sind da weit besser gerüstet als die Schweiz. China, Südkorea, aber auch europäische Länder wie Finnland und Schweden haben E-Learning-Tage für Schülerinnen längst eingeführt. Das digitale Vorzeige-Land Estland konnte von einem Tag auf den anderen einfach auf das virtuelle Klassenzimmer umschalten. Die baltische Start-up-Nation nimmt beim E-Learning eine führende Rolle ein. Neidisch habe ich mir kreative, spielerische estnische Lern-Apps angeschaut. Davon können wir hier in einem der reichsten Länder der Welt nur träumen. Wenig verblüffend ist, dass die bevölkerungsreichen USA, Indien und China am meisten Geld ins E-Learning stecken. Einigermassen beschämend ist jedoch, dass auch die Elfenbeinküste mehr ins Online-Lernen investiert als die Schweiz. Das afrikanische Land sieht im digitalen Lernen den Schlüssel zu einer besseren Zukunft. Das eidgenössische E-Learning-Chaos wirkt dagegen nur veraltet.

Die meisten Länder sind digital unvorbereitet in Schulschliessungen reingelaufen. Das freut besonders die Tech-Giganten, die nun einen grossen Teil des Unterrichts übernommen haben. Die Schüler treffen sich virtuell im Google Classroom oder bei Microsoft Teams, bei Samsung in Korea oder Alibaba in China. Auch Facebook lehrt online: Auf Youtube werden täglich 1 Milliarde Lern-Videos geguckt. Die Kunden der Zukunft wollen früh geködert sein. Der Markt der sogenannten EdTechs, der Bildungs-Technologie-Firmen, ist ein aufsteigender und mächtiger Multimilliarden-Markt.

Corona hat uns wider Willen auch zu EdTech-Experten gemacht. Und wir stellen fest: Wiederholen geht spielerisch leicht digital. Die Wissenschaft zeigt, dass Online-Unterricht Schülern helfen kann, selbständiger zu lernen. Neuer Stoff aber ist online schwer zu verstehen – Lernen hat nämlich nach wie vor viel mit Beziehung zu tun. Die Lehrerinnen fehlen enorm, und ihre Rolle wird sich auch künftig nie nur auf jene von Digitalassistenten beschränken.

Trotzdem ist die Corona-Krise nun der allerletzte Weckruf, schulisch digital aufzuholen. Vor mehr als einem Jahrzehnt hat beispielsweise Viola Amherd eine Interpellation eingereicht und gefragt, wie es denn der Schweiz gelingen könnte, eine weltweite Führungsrolle im
E-Learning zu erlangen. Dabei hat sie darauf gedrängt, eine nationale E-Learning Strategie zu entwickeln und die Kräfte zu bündeln. Zu Corona-Zeiten wünschen sich so manche Eltern, dass sich Amherd damals schon um diese Fragen hätte kümmern dürfen. Am besten mit dem Budget von 40 Kampfjets. #aufbruch

* Patrizia Laeri (42) ist Wirtschaftsredaktorin und -moderatorin von «SRF Börse» und «Eco» sowie Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Sie schreibt jeden zweiten Mittwoch für BLICK.

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