Mary Grey hat die letzten Jahre vor allem dazu genutzt, die Tech-Magie zu hinterfragen und aufzudecken, dass hinter Maschinen systematisch Menschen stecken. Diese helfen Tech-Firmen so zu tun, als wären sie Tech. Hinter vermeintlich künstlicher Intelligenz sitzt aber jemand aus Fleisch und Blut, sogenannte Geisterarbeiter. Das zeigt ihr Buch «Ghostwork», das sie zusammen mit dem Software-Ingenieur Siddarth Suri geschrieben hat.
Sie rufen ein Uber, und den Rest erledigen Abrakadabra Zauberalgorithmen? Nein – vielmehr reisen die Algorithmen einmal um die halbe Welt, beispielsweise nach Bangalore, zu einer Klick-Arbeiterin in einen elenden Wohnraum. Es ist 3 Uhr nachts. Das Problem: Der Fahrer hat sich die Haare gefärbt. Das aktuelle Selfie passt also nicht mehr zum hinterlegten Passbild und ist für künstliche Intelligenz nicht erkennbar. Sie aber kann den Uber-Fahrer auf einen Blick identifizieren, gibt Ihre Fahrt frei. Sie brausen nach Hause, da piepst das Fahrsystem wegen eines Hindernisses, das auch dank eines Mannes in Caracas erkannt wird. Er hat auf Videos vom Strassenverkehr Tausende Pixel benannt: Dies ist ein Baum, dies ein Haus, das ein Motorrad, dies ein Schild. Gerade auch die globale Autoindustrie und ihre autonomen Fahrprojekte beschäftigen immer mehr digitale Taglöhner.
Kürzlich deckte die «New York Times» auf, dass nicht Maschinen in Restaurants Termine telefonisch buchen, sondern dass auch hinter dem angeblich smarten Dienst Google Duplex meist Menschen stecken. Auch Foto-Video-Apps wie Youtube, Facebook, Instagram oder Pinterest sind nur so «smart» dank unsichtbarer Klick-Arbeiter.
Sie kategorisieren rund um die Uhr Daten, Bilder, Produkte, Kommentare. Ganze Armeen von Arbeitern helfen, den technologischen Zauber zu bieten, der unser Leben verändert. Doch sie tauchen in den Geschäftsberichten nicht auf. Tech-Firmen mit so vielen Mitarbeitern wären ja keine Tech-Firmen mehr. Das würde auch Investoren schrecken. Statt all diese Geisterarbeiter auszuweisen, die Büroflächen und am Ende gar Minimallöhne sowie Sozialversicherungen beanspruchen könnten, mieten Tech-Konzerne sie lieber anonym und extern über Plattformen.
Unsichtbare wie die Frau in Indien und der Mann in Venezuela haben mittlere Stundenlöhne von zwei Dollar. Das hat eine Studie 2018 bei der Crowdwork-Plattform Amazon MTurk ergeben – eine der ersten Geisterarbeiter-Webseiten der Welt. Gerade aus dem zerrütteten Venezuela strömen derzeit Massen zur Klick-Arbeit – immerhin gibt es den Verdienst in Dollar.
Geisterarbeiter gibt es aber auch bei uns. Hier nennt man sie Schwarm-Arbeiter, sogenannte Crowdworker. Die Aufgaben mögen ein wenig anspruchsvoller, der Verdienst ein wenig besser, aber bestenfalls bescheiden sein. Zwischen 440'000 und 1,6 Millionen digitale Tagelöhner sollen es allein in Deutschland sein. Darunter: Arbeitslose, Studierende, Menschen, die phasenweise viel Zeit haben. Zu Geisterarbeitern in der Schweiz gibt es eine Studie von Syndicom. Die weist darauf hin, dass es hierzulande besonders viele digitale Tagelöhner gibt. Ein Drittel der Schweizer hat schon einmal nach Arbeit für eine Onlineplattform gesucht. Besonders verbreitet sei dieses Jobben unter dem Mindestlohn in Zürich und im Tessin.
Immer mehr Menschen erledigen billig im Akkord dröge, monotone Arbeit, nicht besser als am Fliessband des Industrie-Zeitalters. Sie werden am digitalen Fliessband gleich ausgebeutet wie vor 100 Jahren. Das konnten auch die zwei Ökonominnen der internationalen Arbeitsorganisation ILO, Uma Rami und Marianne Furrer, letzte Woche in einer Studie nachweisen. Das Irritierende dabei: Die Klick-Arbeiter sind oft hoch qualifiziert, die Hälfte hat einen Universitätsabschluss.
Das Silicon Valley habe eine neue Unterschicht produziert, legt Mary Gray dar und fordert wie die ILO, dass ihre Arbeit anerkannt und sie sozial abgesichert werden. Dass diese Menschen unsichtbar bleiben, entwertet deren Arbeit, reduziert sie auf eine Art lästigen Rest Menschsein, den es in einer Übergangsphase vor der Vollautomatisierung noch braucht. Aber dies sei eine Illusion, stellt Gray klar.Es werde immer Menschen brauchen, die Daten ordnen und säubern, damit Maschinen überhaupt daraus schlau werden. Maschinen könnten gar immer mehr Menschen brauchen. Geisterarbeit geht uns also alle an.
* Patrizia Laeri (42) ist Wirtschaftsredaktorin und -moderatorin von «SRF Börse» und «Eco» sowie Beirätin im Institute for Digital Business der HWZ. Sie schreibt jeden zweiten Mittwoch für BLICK.