Kolumne «Weltansicht» von Giuseppe Gracia
Der Mensch als Virenschleuder

Kolumnist Giuseppe Gracia spricht die sozialen und emotionalen Kosten der Pandemie an. Unserer Gesellschaft droht ein Verlust von Nähe und Intimität.
Publiziert: 26.10.2020 um 10:54 Uhr
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Aktualisiert: 22.11.2020 um 22:25 Uhr
Giuseppe Gracia

Seit Monaten wird diskutiert über die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen von Corona, über die Massnahmen von Bund und Kantonen. Für einige handelt die Regierung zu langsam und zaghaft, für andere zu angstmacherisch und zentralistisch.

Solche Diskussionen gehören zu einer lebendigen Demokratie. Was jedoch kaum debattiert wird, sind die sozialen Kosten der Pandemie. Je länger die Angststimmung und Unsicherheit anhalten, desto mehr erscheint uns der Mitmensch als Agent der Ansteckung. Der Nachbar wird zur potenziellen Virenschleuder. Selbst Verwandte, Eheleute, Grosseltern oder Kinder werden nicht mehr bedenkenlos umarmt und geküsst, sondern zunehmend gemieden wie wandelnde, unbewusste Brutkästen. Schliesslich kann es jederzeit zuschlagen, dieses fürs menschliche Auge unsichtbare und doch dauerpräsente Virus.

Die Menschen haben ein feines Gespür für den Verlust der Intimität

Es droht eine Paranoia des Zwischenmenschlichen. Eine soziale Kälte aus Intimitäts- und Körperangst. Es ist kein Zufall, dass sich in den sozialen Medien vermehrt Sprüche wie dieser finden: «Never leave your home without a kiss, a hug and an I love you.» (Deutsch: «Verlass
dein Haus nie ohne einen Kuss, eine Umarmung und ein: Ich liebe Dich.») Solche Aussagen zeigen: Die Menschen spüren, wie sich ihr Zusammenleben verändert und zur äusseren immer mehr innere Distanz hinzutritt.

Keine Aufforderung, unverantwortlich zu handeln

Ich will nicht, dass wir uns gegenseitig zur potenziellen Virenschleuder degradieren, sondern uns weiterhin als Menschen begegnen. Ich will nicht, dass eine Krankheit, wie immer sie heissen mag, die Ausdrucksformen meiner Zuneigung und Liebe abstumpft. Umarmungen, Küsse, körperliche Nähe: Wenn das zu lange fehlt, macht uns das alle auch krank. Ist das eine Aufforderung, unverantwortlich zu handeln? Sage ich damit, dass ich bereit bin, andere zu gefährden? Nein, es ist nur Ausdruck einer Sorge. Sorge um diese andere, sehr gefährliche Langzeitwirkung von Covid-19: die Erkaltung der Herzen und der Beziehungen. Dem möchte ich entgegenwirken. Denn wenn das Herz nicht mehr stimmt, ist das für die Gesellschaft schlimmer als jede Krankheit. Mit den Worten des Schriftstellers Leo Tolstoi (1828–1910): «Im Herzen eines Menschen ruht der Anfang und das Ende alle Dinge.»

Giuseppe Gracia (53) ist Schriftsteller und Medienbeauftrager des Bistums Chur. Sein neuer Roman «Der letzte Feind» ist erschienen im Fontis Verlag, Basel. In der BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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