Kolumne «Weltanschauung»
Alles eine Verschwörung

In Corona-Zeiten erscheint die Wirklichkeit noch chaotischer, widersprüchlicher und undurchschaubarer als zuvor. Kein Wunder, haben Verschwörungstheorien Hochkonjunktur.
Publiziert: 02.08.2020 um 23:23 Uhr
Giuseppe Gracia, Schriftsteller.
Giuseppe Gracia

Gefälschte Mondlandung, Massenimpfungen zur Gedankenkontrolle, 9/11, die jüdische Weltherrschaft: Seit es Menschen gibt, die sich Geschichten erzählen, gibt es Verschwörungstheorien. Von der unheimlichen Story am Lagerfeuer bis zum Komplott-Thriller im Kino. Geschichten, mit denen entscheidende Ereignisse und gesellschaftliche Veränderungen gedeutet werden, um dem Gefühl der Ohnmacht und Undurchschaubarkeit zu entgehen, am besten verpackt in eine Theorie, die unsere Sicht der Welt bestätigt.

Es ist doch klar, dass uns die Amerikaner täuschen und überall Kriege anzetteln! Dass uns Chemie-Multis vergiften, Milliardäre die Fäden ziehen und Corona nur die Vorbereitung auf eine neue, digital gerüstete Weltregierung ist. Die Komplexität der Wirklichkeit, oft widersprüchlich, absurd, sinnlos, ist in Wahrheit nur ein Schein, hinter dem sich die Mächtigen verbergen, die alles lenken. Das heimliche Herz fast aller Verschwörungstheorien ist ein paranoides Lebensgefühl. Das zeigt sich idealtypisch in diesem Satz aus dem Internet: «Nur weil du nicht paranoid bist, heisst das nicht, dass sie nicht trotzdem hinter dir her sind.»

Auch die Mächtigen entkommen dem Tod nicht

Natürlich kann man nicht leugnen, dass auf der Welt Verschwörungen existieren. Zu allen Zeiten gab es mächtige Kreise, die versuchten, die Gesellschaft zu beeinflussen. Aber es stimmt auch, dass die Welt unter dem Strich chaotisch bleibt, dass die Menschheit unberechenbar ist und die Mächtigen am Ende alle sterben, ohne dass sich der Sensenmann gross für ihre Pläne interessiert. Ausserdem scheinen gewisse Leute – interessanterweise mehrheitlich Männer mittleren Alters – Verschwörungen einfach zu brauchen, um sich überlegen zu fühlen: «Ich bin nicht so doof wie die anderen. Ich lasse mich nicht täuschen!» Eine Verschwörung, die Millionen hinters Licht führt, aber nicht mich (weil ich so schlau bin), das ist ein wunderbares Gefühl. Es erhebt mich über das gemeine Volk der Gehirngewaschenen.

Bescheidenheit ist das beste Gegenmittel

Das beste Mittel gegen solche Arroganz sind Gelassenheit und Bescheidenheit. Ich versuche, viel zu lesen und mich zu bilden, aber ich will mir nicht einbilden, die Welt zu durchschauen. Ich durchschaue nicht einmal mich selbst. Ich bleibe kritisch gegenüber jeder Macht, wie immer sie heisst, aber ohne sie ins Finster-Allmächtige zu überhöhen. Oder mit den Worten des Schriftstellers Gregor Brand (*1957): «Es ist noch kein Zeichen von Paranoia, wenn man glaubt, von der Wirklichkeit auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden.»

Giuseppe Gracia (52) ist Schriftsteller und Medienbeauftragter des Bistums Chur. Sein neuer Roman «Der letzte Feind» ist erschienen im Fontis Verlag, Basel. In der BLICK-Kolumne, die jeden zweiten Montag erscheint, äussert er persönliche Ansichten.

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