Der Wiederbeginn kennt seine Rituale. Zum Ende jedes Sommers nehmen die Kinder von neuem den Schulweg unter die Füsse, die Politiker greifen ihre mehr oder weniger produktiven Debatten auf, die sie vor den Ferien ausgesetzt haben. Und bald ist wieder die Zeit der Weinlese. Ich mag dieses alljährliche Eintauchen in unsere Landschaften der warmen Herbstfarben, dieses Kennenlernen neuer lokaler Produkte und die Treffen mit den emsigen Arbeitern.
Fast in der gesamten Romandie, ganz besonders in Genf, finden ab nächstem Sonntag Weinfeste statt. Da zelebriert man die Ernte der Trauben und deren gekonnte Verwandlung in edle Tropfen. Der Wein ist unser Stolz. Er steht für Know-how, dient aber auch als sozialer Kitt und beschert uns so viele gesellige Runden.
Tischgespräche und Meinungsfreiheit
Der Wein lockert die Zungen und bringt die Menschen zusammen. Er steht für authentische Worte, nicht nur weil er Hemmungen abbaut, sondern vor allem weil er eng verbunden ist mit den althergebrachten Traditionen und Werten um Tischgespräche und Meinungsfreiheit. Der Wein will, dass wir uns Zeit nehmen – fürs Degustieren und für echte Begegnungen, an denen nichts gekünstelt ist.
Nichts ist einfach
Mit dem Wein landen wir garantiert bei der Wahrheit. Diese ist wie ein gut gereifter Tropfen, der nur darauf wartet, seine grösste Geschmacksfülle zu entfalten. Die Wahrheit ist komplex, sie ist das Bouquet von mehreren zusammengemischten Traubensorten. Und der Wein gibt uns stets die Gelegenheit zu begreifen: Nichts ist einfach, nichts ist unverrückbar in dieser Welt, die sich so in Gewissheiten wähnt.
Die Weinlese ist also die alljährliche Erkenntnis, dass man Kraft schöpfen muss. Kraft, um sich einer komplexen Realität zu stellen, in der die Wahrheit nicht immer auf den ersten Blick sichtbar ist. Doch seien wir uns auch bewusst: Es gilt «in vino veritas» (im Wein liegt die Wahrheit), aber ebenso «in aqua sanitas» (im Wasser die Gesundheit). Prost!
Pierre Maudet (40) ist Regierungspräsident des Kantons Genf. Der FDP-Politiker ist verheiratet und Vater von drei Kindern. Er schreibt jeden zweiten Mittwoch im BLICK.