Kolumne «Geschichte» von Claude Cueni
Ist Schach rassistisch?

Der Furor, mit dem Hüter des politisch Korrekten nach Rassismus im Alltag fahnden, erreicht immer neue Nebenschauplätze. Kolumnist Claude Cueni fragt sich, ob damit nicht gerade das gefördert wird, was eigentlich bekämpft werden soll.
Publiziert: 20.08.2020 um 23:09 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2020 um 22:03 Uhr
Kolumnist Claude Cueni über die Ursprünge des Schachspiels.
Foto: Thomas Buchwalder
Claude Cueni

Die ersten schachähnlichen Figuren waren klobige Blöcke und stammen aus Mesopotamien. Sie sind über 5000 Jahre alt. Mit der Verbreitung des Spiels entwickelten sich in den verschiedenen Kulturen zahlreiche Varianten. Als im 7. Jahrhundert muslimische Eroberer das Schach nach Europa brachten, wurde die Figur des Läufers noch als Alfil (Elefant) dargestellt, im 12. Jahrhundert haben ihn die Norweger durch einen Bischof ersetzt. Das Schachbrett hatte damals noch weisse und rote Felder, oft waren auch die Figuren entsprechend bemalt.

1849 gestaltete Nathaniel Cook das Set, wie wir es heute kennen. Die Figuren waren meistens aus hellbraunem und dunkelbraunem Holz. Später gelangten Sets mit Kreuzrittern, Nordstaatlern oder Comicfiguren in den Handel. Unabhängig von der Darstellung nennt man die beiden Parteien heute «Weiss» und «Schwarz», wobei «Weiss» jeweils den ersten Zug ausführt. Ist das rassistisch?

Öffentlich-rechtlicher Radiosender setzte Vorwurf in die Welt

Der öffentlich-rechtliche Radiosender ABC Sidney setzte den Vorwurf in die Welt. Somit hätten Millionen von Eltern, die ihren Kindern die Schachregeln beibrachten, ihrem Nachwuchs Rassismus anerzogen, so wie andere Eltern ihrem Nachwuchs den Opferstatus anerziehen.

Es ist heute üblich, dass Aktivisten in den Redaktionen einen kaum beachteten Tweet herauspicken, um mit Pauken und Trompeten einen Shitstorm loszutreten. Man fragt sich, ob ein mehrjähriges Studium in Dekolonialität, kritischer Weiss-Sein-Reflexion und postkolonialem Erinnern notwendig ist, um nun sogar beim Schach Rassismus zu wittern.

Rassistische Mikroaggressionen

Die Debatte ist mittlerweile entgleist und schlittert zwischen Überempfindlichkeit und Verharmlosung. Es ist heute chic, selbst bei banalsten Kränkungen, die jedem Menschen, unabhängig von der Hautfarbe, widerfahren, rassistische Mikroagressionen zu vermuten.

Würde man das Schach wieder mit weissen und roten Feldern und Figuren bestücken, könnten sich die nordamerikanischen Ureinwohner verletzt fühlen. Soll man also weltweit die Schachregeln dahingehend ändern, dass in Zukunft Schwarz beginnt? Oder wäre das Rassismus mit vertauschten Rollen? Ein Stoff für Kabarettisten. Kann es sein, dass derart bizarre Nebenschauplätze gerade das fördern, was man zu Recht bekämpft?

Claude Cueni (64) ist Schriftsteller und lebt in Basel. Er schreibt jeden zweiten Freitag im BLICK. Soeben ist im Verlag Nagel & Kimche sein Roman «Genesis – Pandemie aus dem Eis» erschienen.


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