Nur eines ist sicher, sicher ist nur eines, wir gehen auf den Tod zu, immerzu gehen wir auf den Tod zu, mit Corona, ohne Corona, im Grunde wissen wir das. Doch zeitweilig, mindestens zeitweilig, verliert der uns alle einmal Ereilende seine Wirkungsmacht. Denn nachdem wir die Ausweglosigkeit des Lebens in brüllender Musik oder zart wimmernden Gedichten aufgehoben oder weggekifft haben, nachdem die Jugend ihre Tore also hinter uns geschlossen hat, zieht der Tod seinen Stachel einstweilig ein. Er liegt jetzt hinter uns oder weit vor uns, egal, nun ist erst mal Ruhe, wir haben keine Zeit, an ihn zu denken und vermissen ihn nicht.
Irgendwann meldet er sich zurück
Denn nun werfen wir uns ins volle Leben. Wir strampeln uns ab für Karriere, Kinder und eine Einbauküche, wir kämpfen für eine Liebe, eine Ehe, eine Scheidung, als Memento mori rauchen wir eine Zigarette oder hören Mahlers «Kindertotenlieder». Dabei empfinden wir tief. Trauer, Liebe, Schönheit, der Tod hat sich verwandelt, verschwunden ist er nicht. Irgendwann schielt er wieder durchdringender durch unsere Ritzen, etwa bei Grossmutter, die eines Tages, nach einem 97 Jahre währenden Dasein, hier auf dieser Erde, auf einmal nicht mehr war. Es weinen alle, die sie kannten, das macht diese leichter, dann schliesst der Tod sich über dieses Leben.
Doch der Moment kommt, da man beginnt, seine Gewalt richtig arg zu spüren und seine fiesen, feinen, feigen Waffen. Man erfährt vom Tod eines Kindes, das man noch im Sommer in Nachbarsgarten singen hörte. Oder ein Bekannter, jünger als man selbst und frisch verliebt, wandert nach London aus, nach drei Monaten ist er wieder zurück, mit einem Gehirntumor im fortgeschrittenen Stadium. Und es passiert, dass man einem allerliebsten Menschen Adieu sagen muss, dem war noch kein graues Haar gewachsen und keine Spur von Lebensmüdigkeit. Und ist doch tot.
Trotzig verdrängen oder den Verfall feiern?
Und jetzt Corona. Den Tod ignorieren? Unmöglich geworden. Was tun? Sich gegen seine Zumutung aufbäumen? Mit einer Mischung aus Angst, Trotz, Wut und Wurstigkeit ein ewiges Leben einfordern? Oder besser doch den Augenblick umarmen? Verweile doch, du bist so schön? Dazu gehörte allerdings, sich dem Abenteuer unseres stetigen, sich auch in diesem Moment ereignenden Verfallens zum Tode hinzugeben, mit Neugier und Gelassenheit. Alles wird gut.
Ursula von Arx hat die Hälfte des Lebens wohl längst hinter sich und denkt, wenn sie an den Tod denkt, dennoch meist an den von anderen. Wie lange noch? Von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.