Phase 1 im Vorfeld: Die meisten Medien, so schrill wie voreingenommen, befürchten Verluste für die Grünen bzw. Rot-Grünen; zugleich warnen sie raunend vor einem Zuwachs
der SVP; sie erwarten einen beachtlichen Sprint der nach links schielenden Mitte und einen Rückgang der vormals staatstragenden FDP, die sie gerne herablassend bedauern.
Phase 2 am Wahlsonntag: Kaum sind die Urnen geschlossen, beginnen die Medien mit hoher Pace hochzurechnen, von «NZZ» bis watson.ch – nonstop bis am Abend. Sie rechnen ziemlich falsch, aber am Ende steht da: krasse +3,3 Prozent für die SVP, milde +0,7 % für die SP, erwartete +0,8 % für die Mitte, mitleiderweckende –0,5 % für die FDP, echt schmerzliche –4 % für die Grünen und –0,6 % für die Grünliberalen.
Phase 3 am Montag: Anschwellender Bocksgesang an Deutungs- und Einordnungsversuchen. Rechtsruck – nein, schlimmer: Rechtsrutsch! Ja, ganz schlimm, wie das Schüren von Ängsten und das Bewirtschaften von Problemen die SVP zum Erfolg geführt haben. Zitiert werden ausländische Medien, die vom Aufleben eines Rechtspopulismus schwadronieren. Solidarisch bedauert wird das unverdient schlechte Abschneiden der Grünen und Grünliberalen. Dann, natürlich: Die Mitte hat die FDP überholt, und diese versinkt in die Bedeutungslosigkeit, weil sie sich mit der SVP ins Bett gelegt hat. Die Frauenbewegung ist verebbt. Medien wähnen die Schweiz am Abgrund.
Phase 4, ein paar Tage später: Das Bundesamt gibt bekannt, sich verrechnet zu haben. April, April, die SVP hat doch weniger zugelegt als befürchtet, die Grünen erleiden weniger Verluste als erwartet, die FDP bleibt trotz Einbussen vor der Mitte, die Grünliberalen verzeichnen minime Verluste. Atmen die Medien durch? Nein!
Phase 5, erneuter Alarmismus: Das Bundesamt für Statistik ist der neue Demokratiekiller, weil es das Vertrauen in die Institutionen untergräbt. Aber ansonsten ist für die Medien alles viel weniger schlimm als angenommen. Die Schweiz nur nahe am Abgrund.
Die Lehre daraus: Meinungen sind billiger herzustellen als Fakten. Dass wir als Leser viel über das erfahren, was Medienleute gerade so über die Welt denken, und wenig über die Welt selbst. Das eigentliche Skandalon ist aber doch: In der Schweiz hat sich am Wahlsonntag so gut wie nichts verändert und das von Anfang an nicht – es ging immer bloss um ein paar Prozente. Die neue eidgenössische Politik ist die alte.
Eigentlich verrückt: Kriege toben, die Welt steht in Flammen, und die Schweiz geht wählen. Und es geschieht: nichts.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern.