Alle haben Angst vor Shitstorms.
Mit «alle» meine ich all jene, zu deren Leben ein minimales Exponiertsein gehört: Politiker, Journalisten, Schriftsteller, Dozenten, Manager, Unternehmer. Und wer Angst hat, agiert ängstlich. Die Reden der potenziellen Shitstorm-Betroffenen werden immer geschliffener, die Pressemitteilungen immer verschwurbelter, die Inhalte der Kommunikation immer leerer. Es wird im Zeitalter der sozialen Medien so viel kommuniziert wie noch nie, aber die Kommunikation ist zugleich so nichtssagend wie noch nie.
Der Shitstorm ist stets nur einen Post entfernt. Jede Geste, jede Gesichtsregung, jede Wortäusserung, jede Notiz eines Menschen kann fotografiert, gefilmt oder sonst wie aufgezeichnet werden. Was aufgezeichnet werden kann, kann gepostet werden. Was gepostet werden kann, kann kritisiert, kommentiert, gefollowt werden. Und was gefollowt werden kann, ruft den akademisch gebildeten Internet-Mob auf den Plan.
Der Shitstorm wirkt auf den Einzelnen brutal bedrohlich: Eine nicht mehr enden wollende Flut von Schmähkritik ergiesst sich über ihn. Sie zielt nicht auf irgendeinen Inhalt, sondern auf die Person, oder genauer: auf ihre Reputation. Aus Person wird Unperson, per Mausklick. Sie wird geschmäht, diffamiert, isoliert. Ihre soziale Existenz steht auf dem Spiel – und damit ihre Existenz überhaupt. Sie erleidet, in ihrer eigenen Einbildungskraft, den sozialen Tod. Wer wird sie noch mögen? Wer wird sie noch beschäftigen? Wer wird noch mit ihr reden?
Shitstorm ist Mobbing, das vor aller Augen stattfindet. Wer der gemobbten Person zu Hilfe eilt, wird ebenfalls zum Co-Ziel des Shitstorms. Der Mob berauscht sich an sich selbst und wird immer ungehaltener, die Gemobbten werden immer leiser und verstummen irgendwann ganz. Findet irgendwo in den sozialen Medien ein Shitstorm statt, greifen ihn die klassischen Medien garantiert auf – er verspricht kostenlos wertvolle Aufmerksamkeit. Die Tatsache seiner Existenz verbürgt aus aufmerksamkeits-ökonomischer Perspektive schon seine Relevanz. Das ist verzweifelt gedacht – aber so ist es nun mal.
Was lernen wir? Der Mensch, auch der angeblich aufgeklärte und digitale, ist ein Hordenwesen. Der Mob lebt, ebenso der Voyeurismus.
Die gute Nachricht ist: Wer den ersten Shitstorm erlebt, leidet zwar. Wer aber den zweiten erlebt, leidet nur noch halb. Und ab dem dritten begreift er, dass Grossmutter recht hatte: Es wird nichts so heiss gegessen, wie es gekocht wird. Shitstorms kommen und gehen. Man muss sie sich redlich verdienen. Sie beweisen, dass man leibt und lebt!
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Er schreibt jeden zweiten Montag im Blick.