Eben hat sich der Mensch noch grossartig gefühlt. Unter dem Titel der Globalisierung bestaunt er, wie zusammenwächst, was zusammengehört: wir Menschen rund um die Welt. Zugleich weiss er sich aufgehoben in den Händen des modernen Alleskönners, genannt Staat, von der Wiege bis zur Bahre. Nichts kann dem Menschen widerfahren, er hat im Alltag von allem zu viel und bloss noch die Qual der Wahl. Letzte politische Scharmützel werden geführt, aber eigentlich sind sich alle einig: Die Welt ist gut, und es ist gut, dass die Welt gut ist.
Dann das jähe Aufwachen, gefolgt von Katzenjammer und Pessimismus. An den Rändern der Wohlstandszone toben Kriege, der verwöhnte Mensch fühlt sich in seiner Haut nicht mehr wohl und in seinem Heim nicht mehr sicher. Die Migration schwillt an, die Energie wird knapp, die Politik ist bloss noch am Reagieren. Im Hintergrund dräut der Klimawandel, und am Horizont strahlt die menschengemachte künstliche Intelligenz, die des Menschen nicht mehr bedarf.
Theologisch gesprochen, und das ist dieser Tage die passende Sprache: Der Mensch schwankt in seinem Empfinden zwischen Gottgleichheit und Nichtigkeit, er taumelt von Selbstüberhöhung zu anhaltender Niedergeschlagenheit. Fühlt sich so das Ende an? Oder gibt es für den Menschen womöglich noch Hoffnung, ja Rettung?
Der Mensch überhöht sich gerne selbst – und fällt tief
Emil Brunner, der vergessene, aber grosse Zürcher Theologe, hat dieses Schwanken mannigfach beschrieben. Zum Menschen gehört nach ihm die «Menschenvergötterung», «die den Menschen gleichzeitig zum Nichts und zum Gott macht». Der Mensch überhöht sich selbst und sein Werk, um daran zu verzweifeln und danach umso tiefer zu fallen.
Rettung findet der Mensch nach Brunner, indem er sich seines Wesens bewusst wird: Jeder Einzelne ist gewollt und gemeint. Das heisst theologisch: Er ist gerufen oder besser berufen. Und er antwortet durch seine Existenz auf diesen Ruf. Darin besteht seine Verantwortlichkeit, und in ihr wiederum gründet die menschliche Freiheit. Der Mensch ist stets frei, neu anzufangen – in jedem Augenblick seines Lebens. Denn er verdankt sein Leben nicht sich selbst, sondern einem anderen. Jeder Einzelne ist ein neuer Anfang, und deshalb vermag er selbst, etwas Neues zu beginnen, immer wieder.
Wer diese Möglichkeit ergreift, braucht sich nicht zu erhöhen, um sich darnach zu erniedrigen. Er ist weder Gott noch nichts. Stattdessen fühlt er sich geborgen in einer Ordnung, die er nicht gänzlich versteht, zu der er aber unabdingbar gehört. Nicht das Ende steht an, wie man heute vielleicht meinen könnte, sondern eine Wende: Haben Sie Mut, neu anzufangen. In Ihrem Leben. Jetzt.
René Scheu ist Philosoph und Geschäftsführer des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik (IWP) in Luzern. Nach zwei Jahren beendet er mit diesem Text seine Arbeit als «Blick»-Kolumnist.