Foto: keystone-sda.ch

Historische Auszeichnung beim Nobelpreis 2020
Vier Frauen reichen nicht

Der Nobelpreis ist in diesem Jahr so weiblich wie fast noch nie. Doch das Problem der renommierten Auszeichnung ist viel grösser.
Publiziert: 11.10.2020 um 00:42 Uhr
|
Aktualisiert: 12.10.2020 um 14:47 Uhr
1/6
Die Liste der Nobelpreisträger zeige den blinden Fleck der Wissenschaft, sagt Auslandredaktorin Fabienne Kinzelmann.
Foto: Paul Seewer
Fabienne Kinzelmann

Ich würde Ihnen gerne von der Gen-Schere erzählen, die Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna entwickelt haben. Aber ich verstehe zu wenig von diesem bahnbrechenden Werkzeug, mit welchem Erbgut von Tieren und Pflanzen verändert werden kann – und für das seine Erfinderinnen diese Woche den Chemie-Nobelpreis erhalten haben.

Den meisten Menschen geht es wie mir. Trotzdem erregte die Nachricht Aufmerksamkeit: Zum ersten Mal wurden zwei Frauen gemeinsam und ohne männlichen Co-Preisträger ausgezeichnet. Auch auf diesen historischen Erfolg können die beiden Preisträgerinnen mit den umgerechnet rund 1,03 Millionen Franken Preisgeld anstossen.

Seit 120 Jahren wird der Nobelpreis vergeben. Doch von 931 Preisträgern zwischen 1901 und 2019 waren nur 54 Frauen. In diesem Jahr sind es bereits vier, neben der Französin Charpentier und der Amerikanerin Doudna kommen die Astronomin Andrea Ghez (Physik) und die Lyrikerin Louise Glück (Literatur) zu Ehren – noch ausstehend sind die Wirtschaftswissenschaften. Mehr waren es mit fünf Preisträgerinnen bislang nur im Jahr 2009.

Emmanuelle Charpentier hofft, mit ihrer Auszeichnung jungen Mädchen «eine positive Botschaft zu vermitteln». Jennifer Doudna findet, es sei «besonders für jüngere Frauen grossartig zu sehen, dass die Arbeit von Frauen ebenso anerkannt werden kann wie die von Männern».

Doch es reicht nicht, dass Frauen langsam aufholen. Die renommierte Auszeichnung ist in zahlreichen Bereichen nicht divers genug. Die Preisträger stammen mehrheitlich aus vier Ländern: USA, Grossbritannien, Deutschland und Frankreich. Dass nicht nur Frauen, sondern etwa auch Schwarze (16 Preisträger) oder Asiaten (12) fehlen, zeigt den blinden Fleck der Wissenschaft weltweit. Die mangelnde Repräsentation gesellschaftlicher Vielfalt führt nachweislich zu Forschungslücken.

Der Nobelpreis verdeutlicht strukturelle Grundprobleme. Damit etwa eine heute zehnjährige Schwarze in 48 Jahren ausgezeichnet werden kann – das Durchschnittsalter der naturwissenschaftlichen Preisträger liegt bei 58 Jahren –, müssen heute die entsprechenden Weichen gestellt werden. Das Mädchen muss auf die richtigen Schulen gehen, sich für naturwissenschaftliche Fächer interessieren, morgen an der renommierten Uni studieren, wo prestigeträchtigste Forschungsgruppen arbeiten, und genauso oft publiziert und zitiert werden wie ihre weissen Gspänli.

Zurück zur Gen-Schere: Wenn es Charpentier und Doudna möglich machen, den Code des Lebens neu zu schreiben, sollten wir alle daran arbeiten, dass das auch für die Chancengleichheit gelingt. Etwa indem wir Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund für Naturwissenschaften begeistern – und Forschung in Entwicklungsländern massiv fördern.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?