Gastkommentar
Wissenschaftlicher Fortschritt: Von Kakofonie zu Sinfonie

Die Wissenschaft kann keine klaren Antworten liefern zum Umgang mit dem Coronavirus. Das ganz normal: Was wir im Moment erleben, ist wissenschaftliche Methode in Echtzeit.
Publiziert: 02.11.2020 um 14:26 Uhr
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Aktualisiert: 11.04.2021 um 07:47 Uhr
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Martin Vetterli, Präsident ETH Lausanne (EPFL).
Foto: zvg
Martin Vetterli und Mirko Bischofberger*

Wissenschaft und Forschung standen selten so stark im Mittelpunkt wie während der aktuellen Pandemie. Dies überrascht nicht, denn schliesslich wollen wir alle klare und möglichst einfache Antworten auf offene Fragen. Wie verbreitet sich das neue Virus? Was passiert, wenn ich infiziert werde? Wird es ein Heilmittel oder einen Impfstoff geben?

Doch wie wir in den letzten Monaten alle feststellen mussten, scheint es derzeit nur wenig klare (und definitiv keine einfachen) Antworten auf diese Fragen zu geben. Auch nicht von der Wissenschaft. Und wir alle merken, dass sich sogar die Wissenschaftler teilweise widersprechen, wenn sie über Covid-19 sprechen. Wem sollen wir nun also Glauben schenken, wir, die doch so gerne Sicherheit und klare Antworten hätten?

Es ist in der Tat nicht einfach, mit all diesen Unsicherheiten umzugehen, vor allem wenn ein neues Virus an die Tür klopft. Doch es gibt auch gute Seiten. Die eine ist, dass wir Wissenschaftler gelernt haben, mit solchen Unsicherheiten umzugehen und diese einzuschätzen. Welche Theorien machen mehr Sinn? Welche weniger? Mehr noch, diese Unsicherheiten gehören sogar zum innersten Wesen der Forschung. Oder um es mit den Worten des berühmten Nobelpreisträgers Richard Feynman zu schreiben: Die Wissenschaft handelt nicht von dem, was wahr ist und was nicht wahr ist, sondern von dem, was mit unterschiedlicher Gewissheit bekannt ist. Und jede Tatsache befindet sich irgendwo zwischen absolut falsch und absolut wahr auf einer Skala von Wahrscheinlichkeiten.

Die andere gute Seite der aktuellen Situation ist, dass wir alle Forschung in Echtzeit miterleben dürfen. Ergebnisse, Widersprüche und unterschiedliche Ansichten werden täglich publiziert, debattiert, und es wird sofort darüber Bericht erstattet. Doch auch wenn es schneller geht als je zuvor, so ist dies nichts anderes als die wissenschaftliche Methode, wie sie bereits seit Jahrhunderten praktiziert wird. Und sie beruht eben genau auf der Konfrontation verschiedener Aussagen mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsgraden und auf der Verwendung von Daten, um die besten Hypothesen im Laufe der Zeit zu verifizieren (und andere zu falsifizieren).

Die Kakofonie der Wissenschaft, wie wir sie derzeit erleben, ist also nicht nur ein ganz normaler und höchst gesunder Prozess der Forschung. Er ist das Wesen der modernen Wissenschaft, denn er erlaubt den Fortschritt. Die wissenschaftliche Methode erlaubt es den Forschenden, Ideen von unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten vorzuschlagen, diese zu verwerfen, einen Schritt nach vorn zu machen, dann einen rückwärts, zwei zur Seite, und wieder zwei Schritte nach vorn, und so weiter, bis der Prozess irgendwann in der Feststellung einer neuen Tatsache mündet, die alle überzeugt. Mit anderen Worten, bis die Kakofonie zu einer Sinfonie wird!

Die wissenschaftliche Methode ist bei weitem nicht perfekt, ganz im Gegenteil. Sie ist ein komplizierter und langsamer Prozess, auch wenn zurzeit alles schneller geht als je zuvor. Und auch wenn die wissenschaftliche Methode manchmal widersprüchlich daherzukommen scheint, so ist sie diejenige Methode, die bisher am besten funktioniert hat, um allgemeingültige Tatsachen über die Natur herauszufinden. Und es ist deshalb diese Methode, die uns in den kommenden Monaten auch mit einer neuen Impfung beglücken wird (in einer Rekordzeit!). Oder, um Churchill zu paraphrasieren: Die wissenschaftliche Methode ist die schlechteste Methode, abgesehen von allen anderen, die bisher ausprobiert wurden.

* Martin Vetterli (r.) ist Präsident der EPFL (ETH Lausanne), Mirko Bischofberger ist Biochemiker und Leiter Kommunikation der EPFL.

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