Zum Jahresende – das grosse Interview mit Frank A. Meyer
«Die DNA der Freiheit»

SonntagsBlick-Kolumnist Frank A. Meyer über die Demokratie, den Islam und Europa.
Publiziert: 27.12.2015 um 00:13 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 00:22 Uhr
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«Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat sind nicht einfach auf alle Zeiten gesichert.»
Foto: Antje Berghäuser
Interview: Christine Maier

SonntagsBlick: Frank A. Meyer, woran lässt sich der Freiheitsgrad einer Gesellschaft ablesen?
Frank A. Meyer: An der Stellung der Frau, an der Gleichberechtigung der Geschlechter. Die Freiheit der Frau ist die Quintessenz der Freiheit! 

Was macht den Menschen frei?
Der demokratische Rechtsstaat und die soziale Gerechtigkeit. Wer arm ist oder Angst haben muss vor Armut, ist nicht wirklich frei. Auch nicht in einer freien Gesellschaft. 

Wer Sie liest, der weiss: Sie fürchten um die Freiheit in unserem Land.
Nicht nur in unserem Land – in der westlichen Zivilisation generell. Der Wert der Freiheit wird wieder bestritten.

Wie muss ich das verstehen?
Die Freiheit ist bedroht. Aktuell von vier Heilsbotschaften: von einer religiösen, die mit der Einwanderung aus der islamischen Welt in unsere Zivilisation eindringt; von einer nationalistischen, die sich im Erfolg des Rechts-populismus niederschlägt; von einer ökonomischen, die den Markt anbetet; schliesslich von einer technologischen, die in der totalen digitalen Vernetzung der Welt die Erlösung erblickt – Google-Gott.

Wie begegnen wir diesen Herausforderungen?
Indem wir unsere offene Kultur der Fragen gegen diese Kulturen der dogmatischen Antworten setzen. Unser System ist ein System von Versuch und Irrtum. Darin wurzelt der Erfolg der bürgerlichen Gesellschaft. Sie lebt von Fragen. Das ist ihr Antrieb. Die Demokratie ist eine Werkstatt: die Möglichkeit, gefundene Lösungen in Frage zu stellen, um noch bessere Lösungen zu finden.

Sie sehen sogar die Demokratie in Gefahr?
Es fehlt das Bewusstsein, worum es heute wirklich geht. Vor allem junge Menschen geniessen Freiheit und Offenheit der westlichen Zivilisation. Aber sie wissen nicht, was diese Freiheit wert ist, woher sie kommt, unter welchen Mühen und Opfern sie erkämpft werden musste.

Warum ist das wichtig?
Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat sind nicht einfach auf alle Zeiten gesichert. Es gibt sie nur, wenn man sie bewusst lebt, sie geschichtsbewusst gestaltet – und verteidigt.

Wann hat die Erosion dieses Bewusstseins ihren Anfang genommen?
Vor zehn Jahren habe ich mit Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler ein Buch gemacht. Es hiess «Der lange Abschied vom Bürgertum». Damals dachte ich: Diese zwei konservativen Zeitgenossen übertreiben mit ihren Befürchtungen. Doch sie haben posthum recht bekommen. Der Abschied vom Bürgertum begann mit dem Ende der bipolaren Welt, dem Ende des Kalten Krieges, dem Ende des kommunistischen Totalitarismus. 1989, als in Deutschland die Mauer fiel, schien bürgerlicher Kampfgeist plötzlich nicht mehr nötig. Zusätzlich schwächte die Globalisierung den bürgerlichen Staat. Erlaubt war alles, was wirtschaftlich erfolgreich war. Das erwies sich als fatal, wie die Finanzkrise zeigte. Der Staat musste die grössenwahnsinnige Geldwirtschaft retten – und hat sich dadurch noch weiter geschwächt.

Sie trauern doch nicht im Ernst dem Kalten Krieg nach!
Überhaupt nicht. Die Welt lebte damals unter der Bedrohung eines Atomkrieges – im Gleichgewicht des Schreckens. Nach dem Ende dieses Horrors herrschte zunächst ein Gefühl der Befreiung. Der Amerikaner Francis Fukuyama schrieb sein euphorisches Buch «Das Ende der Geschichte», in dem er zum Schluss kam, die Freiheit habe endgültig gesiegt. Wie wir heute sehen, war das ein Trugschluss.

Wen machen Sie dafür verantwortlich?
Einerseits die marktradikalen Ideologen, die alles, was den Menschen und die Gesellschaft ausmacht, über den ökonomischen Leisten schlagen – Preis statt Wert. Andererseits die linken Ideologen, die ihre bürgerliche Herkunft verleugnen, indem sie die westliche – die amerikanische – Zivilisation hassen und verantwortlich machen für alle Probleme dieser Welt – Kapitalismus als das Böse.

Woran machen Sie das fest?
Die Rechte bewundert autoritäre Systeme wie China oder Singapur für ihre angebliche ökonomische Effizienz. Sie hadert mit den komplexen politischen Prozessen der Demokratie. Die Linke ist auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt, das ihr helfen könnte, die nach ihrer Meinung doch nur dem Kapital dienende Demokratie zu überwinden. Deshalb ist ja die politische und publizistische Szene von linksliberal bis links aussen vernarrt in den Migranten-Islam, den sie systematisch verharmlost und schönredet.

Sie hassen den Islam, hab ich recht?
Mir ist der Islam gleichgültig, solange er nicht die Welt bedroht, wie er es gerade tut, solange er sich Demokratie und Rechtsstaat unterordnet. Im Übrigen mag ich keine Religion, die sich herrschsüchtig in die Gesellschaft einmischt. Einst erhob auch die katholische Kirche einen solchen Herrschaftsanspruch. Die Befreiung verdanken wir Luther und der Reformation. Sie setzte sich fort mit der Aufklärung und der Französischen Revolution. Das Ergebnis ist die bürgerliche Demokratie. Diese Geschichte müsste jede Bürgerin und jeder Bürger kennen – im bürgerlichen Erbgut tragen. Es ist die DNA der Freiheit. 

Wir sprachen von den Linken. Was ist mit der Mitte passiert?
Die Mitte, das wäre das Bildungsbürgertum. Ich sage wäre, weil da von Bildung heute wenig zu spüren ist. Wenn ich etwa die Schweiz betrachte, bin ich ratlos. Das intellektuelle Niveau in der Politik ist doch sehr dürftig.

Sie malen ein gar düsteres Bild, Herr Meyer!
Ein realistisches Bild. Nur wenn wir uns bewusst machen, was in unserer Jetztzeit historisch geschieht, wächst das Rettende.

Wo?
Rettende Kräfte regen sich in ganz Europa, besonders sichtbar im Süden. In Griechenland, Spanien, Italien oder Portugal leben Millionen junger Menschen in schwierigsten materiellen Verhältnissen. Dennoch halten sie fest an der Demokratie. Sie gehen wählen. Sie bilden neue Parteien. Sie glauben an die demokratische Veränderbarkeit der Gesellschaft. Darauf müsste sich der Norden, darauf müsste sich insbesondere Deutschland einlassen.

Sie erwähnten Griechenland. Die Jugend dort steht am Abgrund, weil die korrupte Väter-Generation das Land an die Wand gefahren hat.
Jahrhunderte islamischer Herrschaft sowie die christlich-orthodoxe Kultur beeinflussen bis heute die griechische Politik. Klientelismus und Clanherrschaft sind die Begriffe dafür. Griechenland muss erst noch eine moderne Nation im westlichen Sinne werden. Ebenso Rumä­nien und Bulgarien. Und ­gerade in diesen Tagen wirft der Katholizismus Polens mit seinen klerikal-faschis­tischen Tendenzen eine ­erfolgreiche osteuropäische Demokratie um Jahre zurück. Solche kulturellen Prägungen und Entwicklungen müssen wir uns stets bewusst machen.

Sie zielen auf den Norden Europas.
Ja, auf den protestantischen Norden, der mit seiner sturen Sparpolitik die Wirtschaft im Süden abwürgte. Deutschland beispielsweise ist bereit, in eine neue Generation muslimischer Migranten Milliarden Euro zu investieren. Das geht nicht anders, will man eine Katastrophe wie in den französischen Banlieues vermeiden. Doch die gut ausgebildeten Jugendlichen in Südeuropa bedürfen ebenso der Aufmerksamkeit – und zwar rasch, am besten mit einem Marshallplan nach dem Vorbild der Amerikaner, die nach dem Krieg damit den Deutschen auf die Beine halfen. Stattdessen tritt Deutschland in Europa zunehmend herrisch auf und schwingt die Zuchtrute gegen Nationen, die seinen Spar-Ökonomismus ablehnen.

Ein neues Deutsches Reich?
Angela Merkel inszeniert sich gerne bescheiden. Sie tarnt damit ihre Machtpolitik. Ökonomisch ist Deutschland ja tatsächlich die führende Macht Europas. Neuerdings erhebt es Anspruch auf moralische Führung. Das aber erträgt Europa nicht. Das hat es nie ertragen.

Kommen wir noch auf die Schweiz zu sprechen: Das Ja zur Masseneinwanderungs-Initiative von 2014 erzürnt Sie sehr.
Erzürnt ist das falsche Wort. Ich sehe das ganz sachlich. Unser Land hat einen grossen Bedarf an hoch qualifizierten Fachkräften. Die meisten kommen aus Europa. Sie passen zu uns, sie sind uns punkto Mentalität verwandt – «uns» heisst, den Deutschschweizern, den Romands, den Ticinesi. Die Schweiz bietet leistungswilligen jungen Demokraten ein wunderbares Betätigungsfeld. Diese Attraktivität wird gefährdet durch die Initiative gegen die Masseneinwanderung, die das Verhältnis zu Europa erheblich stört. Wie übrigens weitere brachiale Initiativen: die eine gegen das Völkerrecht, die andere gegen die Rechte der Ausländer. Beide werden von Europa nicht widerspruchslos hingenommen. Die Schweiz macht sich unsympathisch, wenn nicht unmöglich: Sie beschädigt ihre Reputation, ihr Image. Das ist gefährlich, denn als eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften der Welt muss sie offen bleiben – für Leistungsträger, aber auch für die Abnehmer schweizerischer Waren und Dienstleistungen. 

Wir stehen wenige Tage vor dem neuen Jahr. Was erhoffen Sie sich von 2016?
Gegenwärtig werden wichtige Debatten unterdrückt. Ich erlebe in Deutschland, wie eine Kaste von Politikern, Publizisten und Pastoren das Thema Flüchtlinge manipuliert: Wer sich dazu kritisch äussert, wird als rechts oder gar rechts aussen stigmatisiert. Die Propaganda für die Einwanderung erschallt von morgens bis abends. Nicht nur in Deutschland. Überall in Europa – auch bei uns in der Schweiz – scheut man sich, heikle Probleme beim Namen zu nennen und bei den Hörnern zu packen. ­Dabei ist die Debatte das ­Lebenselement der Demokratie – der freie, offene Streit über den richtigen Weg, eine Streitkultur von Bürgerinnen und Bürgern, die eine entscheidende Gemeinsamkeit verbindet: das Bekenntnis zur freien und offenen Gesellschaft. Das wünsche ich mir.

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