Viola Amherd tritt aus dem Bundesrat zurück. Ein neues Mitglied des Kollegiums ist zu wählen. In unwirtlichen Zeiten. Sie bestimmen gerade den politischen Alltag sogar in der Schweiz.
Ueli Maurer, alt Bundesrat aus den Reihen der SVP, sieht die Lage des Landes so: «Wir nähern uns einem totalitären Regime.» Während die FDP erklärt, was dringend zu tun sei: «Jetzt Schweiz schützen.»
Jede Partei nach ihrem Gusto: Die SVP-Warnung ist einfältig, der FDP-Aufruf hilflos.
Was zutrifft: Es geht um mehr als eine routinemässige Neuwahl in den Bundesrat. Deshalb geht es auch nicht um Rechenexempel wie die, denen sich Bundeshausjournalisten nun wieder mit Akribie hingeben: Welche Partei hat mit wie viel Wähleranteil Anspruch auf einen oder zwei Sitze in der Regierung? Sind die Grünen rein rechnerisch die Geächteten im grossen Spiel der Bundesratsarithmetik? Rechnen statt denken.
Zu rechnen allerdings gilt es bei dieser Ersatzwahl sehr wohl: mit dem Aufstieg eines äusserst rechten Rechtspopulismus in Regierungsverantwortung überall in der freien Welt. Von Meloni über Wilders bis Trump.
Zwei reaktionäre politische Lager sind dabei, die Geschicke der Demokratien zu bestimmen: die moralautoritären Linksgrünen einerseits, die nationalreaktionären Rechtsaussen andererseits. Beides mächtige Flügel, beide bereit, das Gegeneinander in Gemeinsamkeit zu verwandeln – gegen die liberal-konservative Mitte.
Diese Konstellation ist das fatale Resultat einer gelungenen Kulturrevolution ganz im Sinne des italienischen Marxismus-Denkers Antonio Gramsci (1891–1937), dem zufolge nicht primär das ökonomische Sein das Bewusstsein bestimmt, sondern vor allem die kulturelle Hegemonie.
Die grünlinke Glaubensgemeinschaft hat sich mit ihrem Anspruch durchgesetzt, das Gute und Wahre zu predigen, ja zu verkörpern: als letzte Generation gegen die Klima-Apokalypse. Religion statt Politik.
Nun schlägt das ideologische Pendel in Form rechtspopulistischer Gegenkräfte zurück.
Wer wagt Widerstand? Die Parteien der konservativen Mitte bisher kaum. Vor allem die Freisinnigen sowie die bewahrenden Kräfte der Sozialdemokraten beharren geschichtsstur auf Wirtschafts- und Sozialmacht – ihrem Erfolgsrezept von ehedem.
Deshalb haben sie weder dem reaktionären Rabaukentum noch der wohlstandsverwöhnten grünlinken Akademikerkaste etwas entgegenzusetzen, deren Kinder- und Kindeskinder Universitäten, Medien, Staat, NGOs und Kirchen erobern. Lehrstühle, Verwaltungs- und Beraterposten, Expertengremien noch und noch bieten gut dotierte Stellen für den naseweisen Nachwuchs.
Auf diesen Machtanspruch vom linken Rand gibt lediglich der wild spriessende Rechtspopulismus eine Antwort – durch einen unerwartet erfolgreichen Machtanspruch vom rechten Rand.
Worum geht es bei den politischen Entscheidungen dieser Tage? Um die Rückeroberung der kulturellen Macht im Staat durch die Garanten einer wahrhaft offenen Gesellschaft, also durch demokratisch-rechtsstaatliche Kräfte, die statt auf Erlösung von allem Übel auf die Dialektik von Versuch und Irrtum setzen. Vor allem der Freisinn müsste den Anspruch erheben, Wortführer einer liberal-konservativen Renaissance zu sein – allein schon aus historischer Selbstachtung.
Es ist noch gar nicht lange her, da gab es in der FDP ein überaus lebendiges intellektuelles Milieu. Dafür stehen Namen wie Barchi, Petitpierre, Tschopp, Schoch, Iten, Salvioni, Steinegger, Rhinow – führende Köpfe der freisinnigen Widerrede, in der Bundeshausfraktion animiert durch deren Präsidenten Ueli Bremi, der die freisinnigen Vordenker «meine Grenzbefestigungen» nannte.
Wie stehts um die andere grosse bürgerliche Partei, die Christdemokraten, heute unter dem flotten Kürzel «Mitte» aktiv? Die hat ihre Verpflichtung auf den Kulturkampf nie völlig preisgegeben – und ist, wenn auch bisweilen arg diskret, eine Bewegung des breiten intellektuellen Begründens und Bedenkens geblieben. Ihr bietet sich mit der bevorstehenden Bundesrats-Ersatzwahl die Gelegenheit, diese Tradition selbstbewusst und deutlich erkennbar fortzusetzen: nach sechs Jahren Amtszeit der intellektuell massiv unterschätzten Viola Amherd nun hoffentlich mit einer ebenso politisch wie kulturell herausragenden Persönlichkeit, am besten einer Kombination von Theorie- und Tat-Talent.
Ja, es ist an der Zeit, eine Antwort auf die lautstarken linken und rechten Anmassungen in allzu vielen Nationen der demokratischen Welt zu geben – und zwar ganz nach Schweizer Art:
Durch eine Wahl.