Frank A. Meyer
Ohne Worte

Publiziert: 24.01.2016 um 09:55 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 23:15 Uhr

Was wäre ein Politiker, der sich erdreisten würde zu erklären, die Schweiz sei auf dem Wege in die Diktatur? Ja, was wäre der? Genau: Das treffende und daher grobe Wort muss hier gar nicht erst hingeschrieben werden. Jedem Bürger, der noch halbwegs bei Sinnen ist, läge diese Bezeichnung sogleich auf der Zunge, würde er eine solche Verleumdung der Schweizer Demokratie hören oder lesen.

Wenn jener Bürger dann noch zur Kenntnis nehmen müsste, dass der Politiker sogar Applaus erfährt, würde er diesen einzig angemessenen Begriff wohl gleich in der Mehrzahl verwenden.

Deswegen ist auch völlig undenkbar, dass es einen Schweizer Politiker gibt, der eine solche Behauptung aufstellen würde. Und es wäre mehr als surreal, sich auszumalen, er könne dafür auch noch Verehrung seitens der Medien geniessen.

Einfach unvorstellbar, dass diesem Mann – um nur ein ganz und gar aus der Luft gegriffenes Beispiel anzuführen – die «Neue Zürcher Zeitung» zu Füssen läge. Das ist ebenso irreal, wie es die Behauptung wäre, dass der Zürcher «Tages-Anzeiger» oder der BLICK oder andere bedeutende Zeitungen des Landes seit Jahren jede böswillige Banalität eines solchen imaginierten Parteiführers begeistert zum nationalen Ereignis erheben.

Darum Schluss jetzt mit der herbeifantasierten Beschreibung des real ja doch gar nicht Denkbaren – und hin zum real Existierenden: der Durchsetzungs-Initiative.

Dieses Volksbegehren will dem Rechtsstaat das Recht aus der Hand schlagen. Es verlangt, eine Formulierung in die Verfassung aufzunehmen, die verhindert, dass Einwanderer und deren Kinder – also Menschen, die in der Schweiz leben, ohne Schweizer Staatsbürger zu sein – vor dem Richter gleich behandelt werden wie Inhaber von Schweizer Pässen.

Migranten sollen bei Vergehen – sogar bei Bagatell-Vergehen wie etwa unvollständigen Angaben gegenüber dem Sozialamt – nicht mehr das bisher gültige abwägende und verhältnismässige Recht geniessen. Stattdessen werden sie kurzerhand ausgeschafft, und zwar auch sogenannte Secondos, die in der Schweiz aufgewachsen sind und keine andere Heimat haben.

Die neue Verfassungsbestimmung setzt Rechtsgrundsätze ausser Kraft, wie sie für Richter Richtschnur sind. Dieses Unterfangen bedeutet eine radikale Abkehr von der Gewaltenteilung, deren Ursprünge auf Charles Louis Montesquieu (1689–1755) zurückgehen und die heute den demokratischen Rechtsstaat definiert:

- Das Parlament setzt das Recht in Debatten und Kompromissen und Abstimmungen der unterschiedlichen politischen Kräfte und Interessen.

- Die Regierung regiert im Rahmen dieses Rechts und wird dabei durch das Parlament kontrolliert.

- Die Justiz setzt das Recht durch und ahndet Rechtsverstösse durch Richter, die ab-wägend und verhältnismässig urteilen.

Bei einem Sieg der Durchsetzungs-Initiative wäre das Prinzip der rechtsstaatlich-demokratischen Gewaltenteilung abgeschafft: Das Parlament dürfte keinen Rechtsrahmen zum neuen Verfassungstext festlegen, die Richter im Falle von Ausländern nicht länger abwägend und verhältnismässig urteilen.

Ist Volksherrschaft, wie sie hier in die Verfassung geschrieben werden soll, wirklich die höchste, die zivilisierteste Form von Herrschaft?

So behaupten es die rechtspopulistischen Initianten des Volksbegehrens. Wie stünde es mit dieser Behauptung, wenn das Volk Konzentrationslager beschliessen würde? Oder die Entrechtung der Juden? Die Todesstrafe für Sexualtäter? Oder die Aberkennung des Stimmrechts für Frauen?

Volksherrschaft wäre das durchaus. Aber Zivilisation im Sinne von Demokratie und Rechtsstaat wäre es nicht. Vielmehr die Abschaffung der Freiheit – durch das Volk.

Volksherrschaft ist nur so lange legitim, wie die einzelnen Bürger vor Übergriffen durch Volksentscheide geschützt sind. Gleiches Recht für fehlbare Ausländer wie für fehlbare Schweizer gehört zu diesem Schutz.

Gewaltenteilung bedeutet: Keine Gewalt verfügt über die alleinige Macht. Auch nicht die Volksgewalt.

Die Durchsetzungs-Initiative hebelt die demokratisch-rechtsstaatlichen Mechanismen der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative aus, indem sie Migranten unmittelbar dem Volksbeschluss unterwirft – der Volksmacht.

Wird die Durchsetzungs-Initiative angenommen, macht die Volksmacht «zwei Millionen Menschen zu Bürgern zweiter Klasse», wie Justizministerin Simonetta Sommaruga erklärt hat.

Was für ein Volk wäre dann das Schweizer Volk? Immer noch ein Volk der westlichen Zivilisation mit ihren rechtsstaatlichen Garantien der Gleichheit und der Menschenwürde?

Wie sähe Europa die Schweiz, würde diese Volksinitiative angenommen? Ist uns das einerlei? Den Rechtspopulisten ist alles einerlei, solange es der Partei dient.

Zum Schluss noch ein letzter Ausflug ins Fiktive: Wäre ein entfesselter autoritärer Parteiführer denkbar, der die Schweizerinnen und Schweizer aufruft, sich vor den eigenen Richtern in Acht zu nehmen – weil diese zwar hiesig seien und nicht fremd, dem gesunden Volkstum jedoch, wie es der Parteiführer fordert, ebenso fremd wie die ihm verhassten fremden Richter?

Ist so ein geschichtsvergessener und selbstvermessener Politiker in Schweizer Gemarkungen überhaupt vorstellbar? Nein, nie und nimmer ist er das. Es gibt ihn ebenso wenig wie den Politiker, der die Schweizer Demokratie auf dem Weg zur Diktatur sieht.

Darum bleibt selbstverständlich jedem Bürger das treffende grobe Wort zur Bezeichnung eines solchen Politikers im Volksmund stecken.

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