Frank A. Meyer
Oh Gott!

Publiziert: 05.04.2015 um 15:30 Uhr
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Aktualisiert: 08.10.2018 um 12:43 Uhr
Von Frank A. Meyer

Ein Elend ist’s, nichts weniger!

Erst will die Zukunft nicht, wie sie soll: das Bankgeheimnis im Eimer, das Steuerparadies unter Druck, der Franken zu stark, die Exporte zu teuer, der Tourismus in Gefahr, das Verhältnis zu Brüssel ungeklärt.

Was soll bloss aus der Schweiz werden?

Und nun ist auch noch die Vergangenheit plötzlich nicht mehr, was sie war: Den Schwur auf dem Rütli hat es nie gegeben, Tell ist eine Erfindung, die Schlacht von Marignano war nicht Ursprung der Neutralität, die alte Eidgenossenschaft fusste nicht auf Volksherrschaft, die Schweiz ist kein Quäntchen mehr Sonderfall als andere Nationen.

Was ist bloss aus der Schweiz geworden?

Die Mythen der Geschichte galten bisher als sicherer Wert des Mythos Schweiz: Höhenzüge und Berggipfel im Bewusstsein der Bürger – ewig gültig, weil hart wie Granit.

Jetzt erklärt ein Buch, es sei alles anders: von ein bisschen anders bis sehr viel anders, auf jeden Fall normaler, also weniger dramatisch, weniger pathetisch, weniger heldisch. Sogar weniger schweizerisch, weil stets auch europäisch.

Wie das? Die hehre Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft einfach nur Teil der europäischen Geschichte?

Wer wagt es, dergleichen in die Welt zu setzen?

Ein Historiker ist’s, ein Professor, ein Geisteswissenschaftler! Schrecklich, einfach schrecklich. Um nicht zu sagen wider­wärtig! Die Mythenprediger schüttelt’s. Die Schweizerische Volkspartei sieht sich bestätigt in ihrer Forderung, den Geisteswissenschaften an den Universitäten Einhalt zu gebieten.

Doch Thomas Maissen hat sein Buch bereits publiziert, das Unheil ist in der Welt, unter dem Titel: «Schweizer Helden­geschichten – und was dahintersteckt». Der frühere NZZ-Journalist ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris, vorher war er Professor für neuere Geschichte in Heidelberg, Basler ist er ausserdem.

Die braune Liesel erkennt der rechtgläubige Mythenschweizer natürlich am Geläut: Da steht einer in fremden Diensten, um nicht zu sagen in feindlichen, weil deutschen, also europäischen Diensten, und erklärt, entzaubert, beurteilt – verurteilt? – die Heimat. Immerhin nicht vom Brandenburger Tor aus, aber doch vom Triumphbogen. Und damit, wie der «Tages-Anzeiger» treffsicher feststellt: «Aus sicherer Distanz.»

Das aber ist zur Sicherheit des Thomas Maissen auch nötig. Denn der akribische Wissenschaftler hat den Propheten selbst herausgefordert, dessen Name in dieser Kolumne vor lauter heiligem Respekt nicht genannt werden soll. Gottlob wissen dennoch alle Leser, wer gemeint ist, wie es doch bei einem wahren Propheten stets der Fall sein sollte.

IHM wurde die Schweizer Geschichte offenbart, irgendwann, irgendwo, wahrscheinlich in den Bergen und Hügeln zwischen Ems und Herrliberg. Man kommt nicht drum herum, an Mohammed zu denken, wobei der Vergleich nicht bösartig sein soll, sondern nur erklärend, hat doch selbiger die Lehre Allahs ebenfalls als im Himmel gefertigte Offenbarung empfangen, übrigens, so will es die Legende, unter ekstatischen Zuckungen. Und auch jene Lehre war eine unabänder­liche, eine zeitlos gültige, weil eben himmlische, also durch kein irdisches Denken zu revidieren, schon gar nicht durch wissenschaftliches Recherchieren – eine Geschichte ohne Geschichte!

Und jetzt kommt einer – ein Herr Maissen! – und erzählt, was hinter den helvetischen Heldengeschichten stecken soll.

Was aber ist das? Anmassung? Irrsinn? Schlimmer: Es ist Häresie! Ein Abfall vom Glauben!

Und es verdient – die Fatwa!

ER, dem sich die Geschichte offenbarte, hat seine Fatwa bereits erlassen. Im BLICK, wo denn sonst, musste sie doch dringend und in Farbe unters Volk. Die Worte des Propheten lauten so:

«Wenn man die Schweiz nicht ernst nimmt, sie entmystifiziert, ihre Geschichte entstellt und sagt, die Schweiz ist eigentlich gar nichts Rechtes gewesen, will man die Na­tion wegputzen. So kann man die Schweiz schneller Richtung EU auflösen.»

Damit gilt ab sofort: Der Historiker Thomas Maissen will «die Nation wegputzen», will «die Schweiz auflösen».

An dieser Wahrheit gibt es nichts zu deuteln. Wer würde es wagen? Schliesslich ist sie allerhöchster Herkunft.

Und es duldet der Prophet – unser aller Prophet! – keinen Widerspruch. Der ist allerdings auch gar nicht nötig. Nötig ist, wie in jedem Notfall, etwas ganz anderes:

ER braucht Hilfe.

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