Acht Artikel ihrer internationalen Ausgabe von gestern Samstag widmet die «Neue Zürcher Zeitung» (NZZ) dem Thema Europa. Einen ganzseitigen, einen seitendominierenden, drei halbseitige. Europa, Euro, Europäische Union: Themen für die Schweiz, Themen der Schweiz – Schweizer Themen.
Die NZZ ergibt sich neuerdings mit Lust einem Geschehen, das man füglich der Innenpolitik zurechnen kann. Und so tritt die einzige internationale Zeitung der Schweiz auch auf: Wir erklären Europa, was ihm frommt.
Führende Feder dieses Unterfangens ist Chefredaktor Eric Gujer. Er lobt die deutsche Härte gegenüber Griechenland, tadelt Frankreichs Nachgiebigkeit und rügt Europa wegen dessen Flüchtlingspolitik: «Die Stunde der Heuchler.» Gujer, das muss eingeräumt werden, stellt sich den EU-Politikern beratend zur Seite: «Auch wenn die Europäer dies nicht hören wollen, bleibt eine zivile und allenfalls militärische Regionalpolitik das beste Mittel, um Kriegsfolgen wie die Migration an der Wurzel zu packen.»
Ungesagt bleibt natürlich, dass da ein Kommentator Taten fordert, die seinem eigenen Land keinen Soldaten, nicht einmal einen Rappen wert wären.
Sei’s drum, der Chef des Schweizer Sprachrohrs für die Welt argumentiert in seinen Erwägungen zur Causa Europa stets luzide. Wenn es sein muss, bezieht er auch schon mal dezidiert Stellung: «Noch immer ist die EU eine plausiblere Organisationsform für den Kontinent als die von links wie rechts ersonnenen Gegenmodelle, mögen diese auf ein antikapitalistisches Trutzbündnis oder eine reine Freihandelszone hinauslaufen.»
So ist es, möchte man erleichtert seufzen: Endlich liest einmal ein Schweizer den europäischen EU-Gegnern die Postordnung. Mehr noch, Eric Gujer gibt sogar den eidgenössischen EU-Feinden den Tarif durch: Die Schweizer Hoffnung, «man könne als Trittbrettfahrer des britischen Powerplays zum Erfolg gelangen, dürfte sich als trügerisch erweisen. Eine Mehrheit der EU-Staaten lehnt substanzielle Zugeständnisse an London ab, die Schweiz muss folglich ihre Probleme selber lösen.»
Selbstverständlich fehlt im Kommentarkonzert nicht die Stimme von Wirtschaftschef Peter A. Fischer, der neoliberalen Nobelfeder der NZZ: «Die Euro-Staaten sollten sich endlich daran machen, tiefer liegende Konstruktionsfehler zu beheben.»
All dies, im hohen Ton des letztinstanzlichen Urteils vorgetragen, müssen sich die Europäer von Warschau bis Paris, von Helsinki bis Rom gesagt sein lassen – es kostet nur das Abonnement einer fürwahr lesenswerten Zeitung.
Dem europäischen Furor der «Neuen Zürcher Zeitung» ist auch zu entnehmen, wie gerne sie gehört würde in den Hauptstädten der EU – wie gerne sie tatsächlich die Stimme wäre, die zu sein sie sich vormacht.
Dabei hat sie sich selbst ein Bein gestellt: Das Blatt der Schweiz für die Welt ist im Ausland jeden Morgen das Blatt von vorgestern, attraktiv allenfalls noch für Nach-Leser, die unbedingt wissen wollen, was kluge Köpfe sich vor zwei Tagen ausgedacht haben. Diese Tatsache, einer Sparmassnahme geschuldet, bringt den publizistischen Stolz des Landes um seine internationale Wirkung.
Und dann ist da noch das Hindernis par excellence: Die Schweiz spielt keine Rolle in der Europäischen Union, welche wiederum eine entscheidende Rolle spielt für Wohl und Wehe der Schweiz.
Vertrackt das alles, ein Dämpfer für die geschwellte Brust berufener Publizisten. Hinzu kommt noch das Paradox der NZZ, deren europäischer Horizont von keinerlei Bergkämmen verstellt ist: Im eigenen Land hofiert sie systematisch und seit Jahren die SVP-Europafeinde, streift Samthandschuhe über, wenn sie ausnahmsweise um Kritik nicht herumkommt. Es ist, als würde «Le Monde», die NZZ Frankreichs, den Front National schönschreiben und dessen Führerin Marine Le Pen zur harmlosen Polterin stilisieren, mit der doch bitte, bitte, endlich, endlich ein bürgerlicher Parteienpakt zu schliessen sei.
Doch überwiegt zum Schluss die Freude über so viel Europa in einer Zeitung, die zwar nicht Europa, aber immerhin die Schweiz massgeblich mitprägt. Zum versöhnlichen Ausklang deshalb unvergängliche Verszeilen von Ludwig Uhland:
«Die linden Lüfte sind erwacht,
Sie säuseln und weben Tag und Nacht,
Sie schaffen an allen Enden.
O frischer Duft, o neuer Klang!
Nun, armes Herze, sei nicht bang!
Nun muss sich alles, alles wenden.»