Frank A. Meyer
Merkels Lockruf

Publiziert: 23.07.2017 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 00:38 Uhr

Angela Merkel will keine jährliche Obergrenze für Flüchtlinge. Mit dieser kategorischen Feststellung beim ARD-Sommerinterview antwortete sie auf die kategorische Forderung des bayrischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer nach einer Obergrenze von 200'000 Migranten pro Jahr.

Frank A. Meyer, Kolumnist.

Mit autoritärer Geste bestimmt die deutsche Bundeskanzlerin über die deutsche Grenze. Genauso wie sie im Herbst 2015 ohne jede Absprache mit Europa, ohne jede Diskus­sion im Parlament 1,5 Millionen Flüchtlingen die Grenze öffnete – auch ohne jede Kontrolle, wer denn da ins Land kam.

Merkels erneute Verweigerung einer Obergrenze dürfte sich unter den auswanderungswilligen Menschen von Afghanistan über Eritrea bis Marokko herumgesprochen haben – in Windeseile, wie man früher sagte, mit digitaler Beschleunigung, wie man heute sagen muss. Millionen werden Merkels Erklärung als das interpretieren, was sie sich wünschen: als Einladung, ja als Lockruf. Wie könnten sozial bedrängte Menschen aus Asien, dem Nahen Osten und Afrika den Freipass der Kanzlerin auch anders verstehen!

An Italiens Ufern stauen sich die Flüchtlinge, die in ihrer grossen Mehrheit keine Flüchtlinge sind, von Politikern und Publizisten aber mit Bedacht dennoch so genannt werden. Sie stauen sich auch an der Schweizer Südgrenze.

Was hat Merkels Migrationspolitik mit der Schweiz zu tun?

Die Schweiz ist Europa – ein ganz besonders attraktives Land in Europa. Und genau dieses Europa ist Hoffnung und Ziel für Millionen Menschen aus unattraktiven Weltgegenden. Sie marschieren los, weg von Armut und Misere, um auf dem Kontinent, der ihnen als Paradies erscheint, in den Genuss vielfältiger sozialer Segnungen zu kommen – Segnungen, die in fast schon perfekter Form vor allem Länder wie die Schweiz oder Deutschland anzubieten haben: den umfassend ausgebauten Sozialstaat.

Mit ihrem selbstherrlichen Angebot an die arme Welt, Einwanderer ohne Begrenzung der Zahl im deutschen Sozialstaat willkommen zu heissen, verfügt Angela Merkel letztlich über die Grenzen ganz Europas – auch über die der Schweiz!

Bill Gates, Microsoft-Gründer und Wohltäter, der zusammen mit seiner Frau Hunderte Millionen Dollar gegen Armut und Krankheit in Afrika spendet, fordert einen Stopp dieser Völkerwanderung: Man müsse es «Menschen aus Afrika erschweren, die bisherigen Transitrouten nach Europa zu benutzen». In einem Interview mit der «Welt am Sonntag» sagte der US-Milliardär jüngst: «Deutschland kann unmöglich diese gewaltige Masse an Menschen aufnehmen.»

Was meint Bill Gates mit seiner Warnung? Er meint die Überforderung des deutschen, des europäischen, auch des schweizerischen Sozialstaates. Denn schon jetzt bieten die über Generationen hart erkämpften Einrichtungen sozialer Sicherheit Herberge für Millionen Migranten, die leistungs- und bildungsschwachen Gesellschaften entstammen, im Fall muslimischer Länder auch leistungs- und bildungsfeindlichen. Wer sollte diese Menschen auffangen, wenn nicht das soziale Netz?

Dieses soziale Netz aber ist die grösste ­Errungenschaft der europäischen Zivilisa­tion. Ohne jede Übertreibung darf sogar ­gesagt werden: Der Sozialstaat ist das ­bedeutendste Gesellschaftsprojekt der Geschichte, garantiert er doch Gerechtigkeit – und dadurch Freiheit. Denn nur ein Mensch ohne Angst vor sozialer Verelendung ist auch ein freier, ein gleicher Bürger – ein Citoyen.

Diese global einmalige Sozial-Ordnung wird durch den unbeschränkten Zustrom von Migranten gefährdet. Sie ist in absehbarer Zeit nicht mehr finanzierbar. Und zwar weder finanzierbar für die einheimische noch für die einwandernde Bevölkerung.

Europas Gerechtigkeitsgebäude gerät ins Wanken. Damit ist just das gefährdet, was die Migranten auf ihrem Zug über Berge, durch Wüsten und übers Meer antreibt: die gerechtere Welt, die Leitkultur unserer modernen sozialen Ordnung.

Für den Kampf um Gerechtigkeit steht seit jeher die Arbeiterbewegung, allen andern politischen Kräften voran die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften. Auch im gegenwärtigen deutschen Wahlkampf lautet deshalb ihr Leitmotiv, propagiert vom sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz: Gerechtigkeit!

Allerdings hat der Kämpfer für gerechtere Sozial- und Bildungsleistungen in diesem Wahlkampf noch kein Wort verloren über die fatalen Folgen ungeordneter Einwanderung in das deutsche Sozial- und Bildungssystem.

Zum autokratischen «Obergrenze nein!» der Kanzlerin, die er vom Thron stossen möchte, fällt ihm nichts ein – kein «Obergrenze doch!»

Der SPD-Kandidat versäumt damit die Gelegenheit, die Gerechtigkeitsfrage aus den Zahlenwolken auf den Boden der Tatsachen zu holen: Wie soll der deutsche Sozialstaat für die nächsten Generationen gesichert werden – auch für die nächsten Einwanderer-Generationen?

Martin Schulz schweigt.

Nicht nur er.

Es soll, es darf in Deutschland keine Debatte darüber geben, wie viel Belastung durch Migration der Sozialstaat erträgt. Und schon gar nicht darf es eine Debatte darüber geben, was die Bürgerinnen und Bürger an Migra­tionskosten zu tragen bereit sind.

Es fehlt in Deutschland offensichtlich Vertrauen in das Volk, das gerade in diesen Wochen beschworen wird, seine Rolle als Volk wahrzunehmen und zu wählen – beispielsweise die SPD.

Martin Schulz warf Angela Merkel kürzlich einen «Anschlag auf die Demokratie» vor, weil sie der Auseinandersetzung über wesentliche politische Fragen ausweiche.

Zu den wesentlichen politischen Fragen für kommende Genera­tionen in Deutschland, ja in ganz Europa und deshalb auch in der Schweiz zählt die Einwanderung.

Hier ist es Martin Schulz, der dieser Ausei­nandersetzung ausweicht.

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